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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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aber keiner protestierte dagegen, verewigt zu werden. Das tat die Landschaft auch nicht. Aber schließlich hatte sie uns ja auch alle in der Gewalt. Sie würde daliegen und ungefähr genauso aussehen, noch lange nachdem wir anderen für immer gegangen waren, Mongstad ein rostiger Fund aus der Vorzeit war und nur der Himmel und das Meer das Ganze überlebt hatten.
    Dann setzten wir uns wieder in den Wagen. Bevor ich den Motor anließ, warf ich einen letzten Blick in Richtung Waldrand, wo Roar immer noch auf seinem Pferd saß und ritt, hin und zurück, hin und zurück.
    Ich ließ den Motor an und verließ ihn, für dieses Mal.
    Ein paar der Hügel auf dem Weg zur Hauptstraße waren so steil, daß wir das Gefühl hatten, auf den Rückenlehnen zu liegen. Das gab ein reizvolles Gefühl als lägen wir gemeinsam im selben Bett.
    Ich schielte zu ihr hinüber. Sie hatte die Jacke vorn geöffnet und saß da, die Hände auf dem Fotoapparat, der mit strammem Riemen über ihren Brüsten hing. Sie hielt die Schenkel leicht gespreizt und der dünne, blauweiße Jeansstoff folgte den Konturen ihrer Beine, von den Knien bis zu der v-förmigen Naht im Schritt.
    »Du bist so still, Varg. Woran denkst du?«
    »Ich weiß nicht, ob es dir gefiele, wenn ich es dir sagen würde.«
    Es gab so viele heimatlose Kinder auf der Welt! So viele freiwillig elternlose …
    Noch einmal sah ich sie an, direkt hinter einer scharfen Kurve. Der Wagen fuhr über eine Kuhle und ihre Brüste wippten leicht. – Wären wir zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte ich auf der Stelle um ihre Hand angehalten, den Wagen in einen Waldweg am Wegrand gefahren, sie um die Taille gefaßt – und ein Kind mit ihr gemacht.
    Aber es war zu spät. Sie war zu alt, um Kinder zu bekommen, und ich hatte meine Chance gehabt.
    Aber trotzdem. – Wenigstens das. In den Waldweg fahren, den Wagen parken, sie herausziehen und wieder hinein, auf den Rücksitz, sie nach hinten legen und … mit ihr lieben. Ihre warme Jacke zur Seite schlagen, ihre Haut berühren, unter dem Pullover, die Hände die Rippen hinaufgleiten lassen, ihren BH hochrollen, die Wellen ihres Körpers spüren, ihre Hose aufknöpfen und sie herunterziehen, ihr unter den Po greifen, ein warmer, wohltuender, fingerfertiger Griff, und sie in die richtige Position heben, die Wärme zwischen ihren Beinen finden, den definitiven Stoß auf ihr Herz richten, mit meinem runden Kopf da unten, wie einen glatten Rammbock in ihr Leben hinein. Wenigstens das …
    »Varg!«
    Ihre Stimme war schrill. Beinah wäre ich in den Graben gefahren. Schlitternd brachte ich den Wagen wieder auf die Fahrbahn, hielt an und saß da, die Hände auf dem Lenkrad.
    Sie sah mich ehrlich verwirrt an. »Was ist denn, Varg? Sag doch!«
    Ich sah sie an und sagte: »Es ist nur … ich hab’ da draußen jemanden getroffen, den ich niemals … an einem solchen Ort hätte treffen wollen.«
    »Ohh!« Sie kam nah an mich heran, legte die Arme um mich, küßte mich auf den Hals, ließ mich die Wärme ihres Körpers fühlen und hielt mich fest, lange.
    Schließlich machte ich mich vorsichtig los. Ich begegnete ihrem Blick, sah ihre Lippen, den weichen, lächelnden Mund und den besorgten Zug auf ihrer Stirn.
    Ich hatte das Gefühl, wenn ich mich gerade da vorgebeugt und sie geküßt hätte, wäre alles andere passiert, genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.
    Aber ich küßte sie nicht, und nichts geschah.
    Wir fuhren in aller Sittsamkeit nach Hause, mit ungetrübtem Verstand und intakter Moral.
    Als wir auseinandergingen, lächelte sie und sagte: »Wir sehen uns, Varg. Danke fürs Mitnehmen …« Dann lief sie hinein zur Redaktion und ihrem Textverarbeitungsprogramm.
    Ich hingegen fuhr an den Strandkai, parkte auf dem Gemüsemarkt und ging ins Büro, um Berge Brevik zu treffen.

38
    Die Dezemberdämmerung hatte mit bleigrauer Prägnanz mein Büro in Besitz genommen. Ich machte die Deckenlampe an, und in dem plötzlichen Schein sah ich mein Spiegelbild im Büro auf der Außenseite der Fensterscheiben. Einen Augenblick lang sah ich nicht einmal aus wie ich selbst, sondern wie der Arzt für Allgemeinmedizin, von dem ich vor elf Jahren das Büro übernommen hatte. Vielleicht war es sein Gespenst, das zu mir hereinstarrte, so wie mein eigenes Gespenst einmal dieselben Linoleumflächen, dieselben gelbweißen Fensterrahmen und dieselbe düstere Dezemberdunkelheit heimsuchen würde.
    Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz, öffnete die untere linke Schublade,

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