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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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wissen, wo sie ist?«
    »Vielleicht«, sagte er in einem Tonfall, als interessiere es ihn eigentlich nicht.
    »Und die Familie? Hatte sie da Kontakt? Mit der Mutter zum Beispiel?«
    »Keine Mutter will was mit … uns zu tun haben!« sagte er mit unvermittelter Leidenschaft. »Aber sie …«
    »Ja?«
    »Die Schwester rief immer mal an. Das war der einzige Kontakt, den sie hatte.«
    »Sissel?«
    Er zuckte mit den Schultern: die häufigste Bewegung bei ihm, offensichtlich.
    »Hör zu, Roar, noch eins. Am letzten Montag, als sie plötzlich abgehauen ist. War da was Besonderes … irgendein Anlaß? Hat sie was erzählt?«
    Er antwortete nicht.
    »Nichts? Hat sie dir nicht einmal – Tschüß gesagt?«
    Wieder wurde sein Gesicht zu Stein. »Sie fuhr einfach, wie alle. Sie … Wir saßen und tranken eine Tasse Tee in der Küche, und sie blätterte in der Zeitung. Plötzlich warf sie die Zeitung weg und fragte, ob ich die vom Samstag gesehen hätte. – Ich sagte, die läge wohl im Fernsehzimmer, und dann … ging sie da rein. Gleich darauf kam sie wieder raus, mit einer Zeitung in der Hand. Sie war ganz bleich im Gesicht, und dann sagte sie: Ich muß weg, Roar. Jetzt sofort. – Und dann … fuhr sie einfach.«
    »Aber hat sie nicht gesagt … Sie hat nichts davon gesagt, daß sie wiederkommen würde?«
    Sein Blick schweifte suchend über die öde Landschaft um uns herum. »Sie kommen nie – zurück.«
    »Und das war – alles?«
    »Das war alles.«
    »Welche Zeitung hatte sie gelesen?«
    Er lachte trocken. » Bergens Tidende. Das ist die einzige, die uns erreicht hier draußen.«
    Ich sah zu ihm hinauf, an dem großen Pferdekopf vorbei. Sie waren auf eine Weise zusammengewachsen, zu einer Einheit: der Junge und das Pferd. »Möchtest du … Soll ich mal kommen und dich besuchen, Roar?«
    Unsere Blicke trafen sich. Ein Zug von etwas Fernem und Vergessenem flog über sein Gesicht. Dann beugte er sich vor und klopfte dem Pferd auf den kräftigen Hals. »Das ist nicht nötig«, sagte er mit belegter Stimme. »Jonas ist … sowieso der einzige, der mich wirklich versteht.«
    »Hast du ihm den Namen gegeben?«
    Er sah abrupt zu mir auf, mit rotgefleckten Wangen. »Ja. Warum nicht?«
    »Na ja …« Jetzt war es an mir, mit den Schultern zu zucken. »Dann …« Ich sah zum Haus hinüber. »… werd ich wohl … Kommst du mit zum Essen?«
    Er saß wieder kerzengerade auf dem Pferderücken. Sein Gesicht bekam langsam wieder seine normale Farbe. »Noch nicht.«
    Ich lächelte ihm zu. »Vielleicht komme ich eines Tages trotzdem, Roar … Andresen.«
    »Den Namen benutze ich nicht mehr!«
    »Welchen denn?«
    »Das tut nichts zur Sache.« Er straffte die Zügel mit dem Daumen und ließ wieder locker. Das Pferd schlug mit dem Kopf und setzte sich in Bewegung. Sie strichen direkt an mir vorbei, als wäre ich überhaupt nicht da.
    Ich ging zurück zu den Häusern. Ein paarmal drehte ich mich zu ihm um. Er war zu seiner festen Wachroute zurückgekehrt, hin und zurück an dem Wäldchen entlang. Aus der Richtung würde uns niemand überraschen.
    Laila Mongstad saß im Fernsehraum und trank Kaffee mit Jorunn Tveit und ein paar anderen. Ich grüßte in die Runde. Die Männer hatten alle einen dünnen Bart, die Frauen aufgedunsene Gesichter, nach zu hektischem Nachtleben. Sie hatten etwas Verbissenes und Stilles an sich, als wären sie fest entschlossen, auch durchzuziehen, was sie sich vorgenommen hatten.
    Eine selbstbewußte, rothaarige Frau mit Essensduft im Haar kam herein und sagte, daß es in der Küche Mittagessen gäbe.
    Wir gingen in die Küche.
    Es wurde eine merkwürdige Mahlzeit. Die Bewohner sprachen leise miteinander, über praktische Dinge. Jorunn Tveit und die selbstbewußte Köchin versuchten ab und zu, uns mit einzubeziehen, ohne Erfolg.
    Laila Mongstad und ich waren Fremdkörper. Wir hatten keine Narben von Nadelstichen an den Armen, wir zitterten nicht spürbar, wenn wir die Kaffeetasse oder das Milchglas an den Mund hoben, und wenn einer von uns Schluckbeschwerden hatte, dann hatte das andere Ursachen als Abstinenz.
    »Kommt Roar nicht?« fragte ich.
    »Er kommt, wann er will«, sagte Jorunn Tveit.
    Nach einer Weile fragte ich Laila: »Hast du geschafft, was du wolltest?«
    »Ich will nur noch ein paar Fotos machen.«
    Nach dem Essen bedankten wir uns höflich und gingen nach draußen. Einige der Patienten willigten ein, auf ein paar der Bilder zu erscheinen. Zwei von ihnen wollten sich nur von hinten fotografieren lassen,

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