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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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fischte die Aquavitflasche heraus und stellte sie vor mir auf den Tisch.
    Ich schraubte den Verschluß ab, beugte mich vor und sog den vertrauten und eigenwilligen Kümmelduft ein. Dann fiel mir plötzlich ein, daß nicht gerade Altarwein in der Flasche war und daß Berge Brevik einen negativen Eindruck bekommen würde, wenn ich nach Schnaps stänke. Somit schraubte ich den Verschluß wieder zu, legte die Flasche an ihren Platz zurück und begab mich statt dessen in die Cafeteria im ersten Stock.
    Dort befand sich die typische Nachmittagsklientel: alte Junggesellen, die das Tagesgericht einnahmen, die Tageszeitung vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, die Straßenmädchen des Abends, die dasaßen und kettenrauchten, während sie aus dem Fenster starrten und darauf warteten, daß die Nachfrage einsetzte, Studenten vom Lande mit bescheidenem Essensbudget, eine alleinerziehende Mutter, die ihr Kind aus der Tagesstätte geholt und diesmal keine Energie mehr hatte, selbst zu kochen; und ein zufälliger privater Ermittler, der von einem erschütternden Vormittag in Lindås kam und nun auf eine Nachmittagskonferenz mit einem von Gottes Vertretern auf Erden wartete.
    Ich aß ein Frikadellenbrot mit roter Bete und Gewürzgurken, trank zwei Tassen Kaffee und gönnte mir noch eine Waffel, bevor ich wieder ins Büro hinaufging, die Reklamebroschüren der letzten Tage durchblätterte, das vertraute Schweigen des gleichen Zeitraums auf dem Anrufbeantworter abhörte, versuchte, einen Radiosender zu finden, der mir keine Depressionen oder Verdauungsstörungen verursachte, und schließlich in der Stille saß und aus dem Fenster starrte.
    Berge Brevik kam pünktlich, zwei Sekunden vor sechs. Er klopfte an alle Türen, zuerst an die zum Wartezimmer, dann an die Bürotür. Ich fragte mich, ob er auch an der Fahrstuhltür angeklopft hatte.
    Er öffnete die letzte Tür und schloß sie handfest wieder hinter sich, als wolle er sichergehen, daß zwischen uns und der Umwelt wasserdichte Schotten waren.
    Er sah mich kurz an, als er hereinkam, und lächelte ein programmiertes Lächeln. In dem dunkelgrauen Wintermantel, mit den braunen Lederhandschuhen, der schwarzen Aktentasche und dem sauberen Aussehen erinnerte er mehr an einen Geschäftsmann als an einen Seelsorger.
    Auch an seiner Art zu fragen, wo er ablegen könne, war etwas Geschäftsmäßiges. Ich nickte bestätigend zum Garderobenständer, und er zog die Handschuhe aus, hängte den Mantel auf, wickelte sich aus dem pflaumenroten Schal und entblößte den weißen Kragen, das schwarze Hemd und den grauen Anzug mit den grünen Streifen. Schließlich setzte er sich adrett auf meinen Kundenstuhl, die Beine übereinandergeschlagen. Er bürstete, fast automatisch, ein paar Staubkörner von den frisch geputzten, dunkelbraunen Schuhen, bevor er zu sprechen begann. »Ich bin froh, daß du Zeit hattest, mich zu empfangen, Veum«, sagte er vorsichtig.
    »Das ist doch selbstverständlich«, sagte ich.
    Er sah sich um, mit einer etwas steifen Bewegung. »Also das … So sieht also das Büro eines Privatdetektivs in Wirklichkeit aus.«
    »Eines privaten Ermittlers. Aber so sieht es aus.«
    »In unserer Branche sind wir auch nicht viel Luxus gewohnt«, sagte er dann, mit einer Art höflicher Referenz an die etwas verschlissene Atmosphäre meines Büros. »So betrachtet, sitzen wir im selben – Boot.«
    »Ich bin ein Seemann auf dem Meer des Lebens … Steht da nicht irgend so was, in diesem Lied.«
    »Doch, Veum – und genauso ist es. Wir sind alle Seeleute auf dem Meer des Lebens, in der Hand des Wettergottes, Sturm und Stille ausgesetzt, und so gesehen – machtlos.«
    »Und das sagt ein Pfarrer?«
    »Warum nicht? Die Kirche hat nie etwas anderes behauptet. Alle Macht liegt in der Hand des Herren. Er wacht über die Seinen, und es fällt kein Spatz zur Erde, ohne daß … Kurz gesagt. – Wir Menschen sind nur Schneeflocken, die schmelzen, wenn das Schicksal die Hand ausstreckt und uns auffängt. Aber das Schicksal ist bei Gott …«
    »Und sitzt zu seiner Rechten?«
    »Nein, der Platz ist schon besetzt. Aber das Schicksal ist Gott – und umgekehrt.«
    Ich hob fragend die Hände. »Das bedeutet mit anderen Worten, daß – wir alle hier unten – ohne Schuld sind?«
    Er sah mich mit dunklem Blick an. »Wir brauchen alle Vergebung, Veum. Auch du.«
    »Sicher, sicher. Aber ich gehe davon aus, daß du heute nicht hierhergekommen bist, um mir dieses Angebot zu machen?«
    »Nein«, sagte er schnell

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