Gefallene Engel
und räusperte sich. »Nein, Veum. – Nein.« Er flocht die Finger ineinander, beugte sich vor, wie um eine Art vertrauliche Stimmung zu schaffen, und sagte: »Als ich dich gestern traf, als ich von Reb … von Frau Aasen kam, fiel mir plötzlich ein, daß du – daß du es mißverstanden haben könntest.«
Er sah mich an, aber ich sagte nichts. Hier gab es etwas zu erzählen, von dem ich bis jetzt nur die Konturen erahnte, und ich wollte ihm keine Steine in den Weg legen.
Als ich nicht reagierte, fuhr er fort: »Daß du denken könntest, daß es wieder angefangen hätte. Es – Jakob gegenüber erwähnen würdest. Ich weiß nicht, wieviel er …«
Er sah mich fragend an, und ich machte eine vage Handbewegung, während ich mein Gesicht in unergründliche Falten legte, wie um zu sagen, daß, doch ja, er wohl das meiste erzählt hatte. – Das hatte er ja auch. Aber er hatte nie einen Namen genannt.
Er nickte, als wären seine schlimmsten Vorahnungen bestätigt worden. »Ja, ich weiß ja, wie es ist, wenn sich alte Freunde treffen. Plötzlich entsteht eine neue Vertraulichkeit, und gleichzeitig ist es ein Mensch, dem man trotz allem nicht zu nah steht. Da fällt es leicht, sich anzuvertrauen, nicht wahr, Veum?«
Ich nickte. »Doch, das stimmt wohl.«
»Aber was damals passiert ist, das geschah nur ein einziges Mal! Das schwöre ich, bei meiner Seele, Veum! – Es wird nie wieder geschehen. Und es geschah auch gestern nicht. Ich war ausschließlich aus einem Grund da. Um sie dazu zu bringen, an ihre Kinder zu denken, ihren unglücklichen Ehemann, und zu versuchen – jedenfalls zu versuchen! – die Glieder noch einmal zusammenzuschmieden.« Leise fügte er hinzu: »Sie hatte es ja schon einmal geschafft.«
Plötzlich erhob er sich von seinem Stuhl, ging in einem Halbkreis durch den Raum, sah sich um, wie ein zweifelnder Mönch in einer allzu engen Klosterzelle, schlug die eine Faust in die andere Handfläche und rief aus: »Bevor ich sie traf, habe ich ein sündenfreies Leben geführt, Veum! Jesus geweiht, in des Herren Herde.«
Er schluckte und sah mich an, mit glänzenden Augen. »Hör zu! Ich komme aus einem pietistischen Milieu, aus einem kleinen Ort ganz innen an einem Fjordarm in More. Mein Vater war Laienprediger und Vorarbeiter in der örtlichen Möbelfabrik, meine Mutter gebar zehn Kinder. Ich war der zweitjüngste. Zwei meiner Brüder sind auch Pfarrer, eine meiner Schwestern ging zur Heilsarmee und wohnt jetzt in Reykjavik, eine andere Schwester arbeitet als Diakonissin, eine dritte als Lehrerin und Sonntagsschullehrerin – wir haben alle unser Leben gelebt, dem Licht und der Erlösung geweiht, frei von Satan und von Engeln beschützt. Ich machte in Volda Abitur und zog mit vierzehn von zu Hause aus. Danach ging ich nach Oslo und machte mein theologisches Staatsexamen, arbeitete als Feldgeistlicher und wurde dann nach Finnmark berufen, in mein erstes Amt. Nach vier Jahren dort war ich zwei Jahre als Vertretung in Vest-Agder, und dann … 1982 zog ich nach Bergen. – Die erste Stadt, in der ich lebte.«
»Und was war mit Oslo?«
»Dort lebte ich nicht, in dem Sinne. In den Jahren pendelte ich zwischen der Fakultät und meinem Appartement, zwischen der Kirche und dem Ostbahnhof – um den Zug nach Åndalsnes zu nehmen. – Die sieben Jahre in Oslo liegen für mich völlig im Dunkeln, Veum. Es waren Lehrjahre, Jahre, die ich in einer Studierkammer zubrachte, umgeben von theologischen Schriften, Bibeltexten auf griechisch und hebräisch, gelehrten Abhandlungen und philosophischen Exegesen. Es war ein Mönchsdasein, Veum, dem Heiligen geweiht.«
»Aber in Bergen, da begegneten dir also die Versuchungen der Großstadt?«
Er antwortete nicht direkt. »Stell dir diese Außenposten vor. Die erste Periode auf einer einsamen, stürmischen Ebene in Finnmark, mit dem Nördlichen Eismeer direkt vor der Stubentür, Tundradasein den größten Teil des Jahres, eine kolossale Dunkelheit im Winter und ein noch größeres Licht im Sommer, als ob – als ob Gott selbst uns in der dunklen Zeit den Rücken kehrte, aber den ganzen Sommer lang streng auf uns herabstarrte. – Da waren Sekten und Freidenker, Leute mit … heidnischen Ahnen, und dann die treue Schar der Gemeinde, Leute, die sich ihr Leben lang krummgelegt hatten, selbstaufopfernd und freigiebig, aber … auf eine Weise – alt, auch schon in jungen Jahren.«
»Du fandest also auch da keine – Lebensgefährtin?« fragte ich vorsichtig.
Er schüttelte
Weitere Kostenlose Bücher