Gefallene Engel
hervor, den er bekommen hatte. Bevor ich ihn mir ansah, fragte ich: »Du hast ihn mit der Post bekommen?«
Er nickte.
»An dich adressiert, persönlich?«
Er nickte wieder, und ich sah auf das zerknüllte Stück Papier. Jetzt waren drei von ihnen ausgestrichen, und um den vierten war ein schwarzes, unheilverkündendes Viereck gezeichnet, wie bei einer Todesanzeige. Und genau das war es auch.
41
Wir gingen nicht in die Stadt nach dieser Beerdigung. Ich empfahl Jakob, mit dem Brief zu Vegard Vadheim zu gehen. Er sagte, er wolle darüber nachdenken.
Ich fuhr ihn nach Hause, setzte ihn bei der Johanniskirche ab und trotzte drei, vier Ampeln, bis ich einen frühnachmittäglichen Parkplatz fand, zwischen langgeöffneten Weihnachtsgeschäften und Leuten, die zum Essen nach Hause gingen. Zwei Parkwächter maßen mich mit ungeteilter Skepsis, während ich Geld in den Automaten einwarf, als hofften sie, mir würden die Münzen ausgehen.
Ich ging ins Büro, sortierte zuerst die Post und dann die Gedanken. Das erste war das Einfachste: alle Broschüren direkt in den Papierkorb, Rechnungen auf den Stapel, und mehr war es nicht. – Mit den Gedanken war es schon schlechter.
Ich hatte zu viele davon, und sie reichten über zu viele Jahre. Nach und nach erkannte ich ein deutliches Muster in dem Ganzen, aber eines der wichtigsten Puzzleteile fehlte noch immer, und darauf stand Ruth Solheim.
Ich rief Beate an und verabredete, am nächsten Morgen Thomas abzuholen. Dann ging ich zum Auto, entriß den beiden uniformierten Geiern die Beute, die hinter einer Ecke förmlich auf dem Sprung waren und darauf lauerten, daß der Sand aus meinem Stundenglas rieselte, und begann eine Runde in dem, was ich »das Milieu« nannte. Ich fing einige Krähen auf der Flucht und kurbelte für Krethi und Plethi meine Scheibe herunter, aber ein handfestes Resultat kam nicht dabei heraus. – »Die Ruth, wer soll’n das sein?«
- Doch, sie meinten, sie gesehen zu haben, aber das war viele Monate her.
Dann geriet ich an jemanden, der sie gesehen hatte am Dienstag, oder? – Klar doch, draußen in Sandviken, in ’nem Abrißhaus … – Nee, ’ne Adresse? Sie war nur vorbeigekommen. Wohnte da nich.
- Eine dünne Mädchenstimme sagte: »Se hat wohl irgendwie ’ne eigene – Wohnung.«
Näher kam ich nicht.
Ich fuhr nach Hause, zog mir Trainingszeug an, joggte langsam den Fjellvei hinauf, ließ die Zügel da locker, wo das Pferd, dem Gerücht zufolge, Ruhe brauchte, und lief weiter in Richtung Isdal.
Über den Bergen hing der Mond, ein dunstiger Wintermond, in grünliche Watte gepackt wie eine alte Christbaumkugel, die man auf dem Boden in einem vergessenen Pappkarton gefunden hat. Die Bäume standen schwarz und drohend wie Reihen verstorbener Soldaten, das letzte Stück nach Krutthuset entlang. Unten im Svartedik spiegelte sich unklar der Mond, als sei die Kugel noch nicht richtig geputzt. Und ich lief die Wege entlang, während mein Herz langsam reingewaschen wurde, neuer Sauerstoff meine Gedanken sich in neuen Formationen ordnen ließ und wieder neue Ideen entstanden.
Das Tal war verlassen. Ganz am Rand führten ein paar Schäferhundbesitzer ihre Tiere spazieren. Ein einsamer Jogger kam mir entgegen, wuchs aus der Dunkelheit hervor und war vorbei; aber auf dem hintersten Wegstück war nur ich da, allein mit der Natur.
Die Berge erhoben sich steil wie Säulen vor dem Firmament darüber, und oben in dem breiten Tarlebtal ließ der Mond sein blasses Licht auf die verlassenen Höfe fallen, die dort immer noch liegen, tot wie grauer Stein und ebenso stumm wie die Umgebung, an einem Freitagabend im Dezember, zwei Tage vor der Sonnenwende.
Als ich wieder zu Hause war und geduscht hatte, suchte ich die Telefonnummer von Helga Bøe heraus. Ich rief an und fragte, ob Rebecca da sei. Das war sie nicht.
Ich rief Jakob an. Ich fragte, ob er mit Vegard Vadheim gesprochen hätte. Hatte er nicht. »Ich nehme es nicht so ernst, Varg.«
»Nein, nein, warum auch. Ihr wart ja nur vier, und jetzt ist noch einer übrig. Und der letzte, der einen solchen Gruß mit der Post bekam, war ja nur Johnny Solheim.«
»Es muß doch nicht unbedingt einen Zusammenhang geben, oder?«
»Nein, muß es nicht. Vielleicht will dich nur jemand ein bißchen erschrecken. Überschlaf es, Jakob.«
»Das werde ich tun.«
»Hast du heute übrigens mit Rebecca gesprochen?«
»Da oben? Nicht gerade viel, nein.«
»Okay. Wir sehen uns.«
»Das tun wir wohl. Später.
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