Gefallene Engel
Zettel. Zuerst hatte sie geschrieben Danke für, aber das war durchgestrichen. Dann hatte sie geschrieben Wir sehen, aber auch das hatte sie durchgestrichen. Jetzt stand da nur: Geh leise raus, damit du Helga nicht störst. Tschüß. Rebecca.
Ich stand auf, hängte das Bettzeug zum Lüften auf, zog mich an und riß die beiden Seiten aus den Zeitungen heraus, die sie mir gegeben hatte. Bevor ich ging, atmete ich tief, tief durch – wie um zu spüren, ob noch ein Hauch ihres Duftes zurückgeblieben war.
Aber alles, was ich spürte, war der Geruch einer verbrauchten Nacht und im Mund der säuerliche Geschmack von versäumten Küssen.
Ich ging so leise, wie ich konnte, aber es nutzte nichts. Helga Bøe saß am Küchentisch und starrte mich bissig an, vollkommen angezogen und mit einer düsteren Scheibe Vollkornbrot in der Hand. Ich machte eine vage Armbewegung und versuchte, schnell an ihr vorbeizukommen, auf der Hut vor überraschenden Angriffen.
Sie drehte sich plötzlich herum, griff nach einem Tomatenmesser und kam halb vom Stuhl hoch, während sie mit dem Messer auf mich zeigte. »Wenn jemand Rebecca etwas antut, dann … schlag ich zu! Ist das klar?« sagte sie und setzte sich schwer wieder hin.
Ich stand da und starrte auf das Messer. »Gilt das auch – rückwirkend?«
Sie antwortete nicht, und ich ging.
40
Bei Johnny Solheims Beerdigung trafen wir uns wieder, fast alle miteinander.
Noch immer lag der Winter draußen und wartete irgendwo hinter dem Meer. Die Berge um die Stadt waren nackt und bleigrau, als seien sie aus einer Metallplatte geschlagen, die ein himmlischer Schmied über der Stadt hinterlassen hatte wie ein zufällig hingeworfenes Material, vorläufig unbenutzt.
Die Gesichter derer, die sich vor der Kapelle versammelt hatten, hatten den gleichen metallischen Ton. Es war ein düsterer Zug, wie es sein soll bei solchen Anlässen.
Die beiden Familien standen jede für sich, ohne auch nur die zaghaftesten Verbindungen zu knüpfen. Bente Solheim trug einen schwarzen Mantel, der ihr Gesicht durchsichtiger denn je wirken ließ. Wäre nicht die dicke Schicht von Schminke gewesen, hätte sie unsichtbar sein können. Mir schoß der Gedanke ein, daß sie genau das war: ein gepudertes Gespenst. Sie stand zusammen mit zwei älteren Menschen, die, wie ich annahm, ihre Eltern waren, ein paar anderen, die Schwestern oder Schwägerinnen, Brüder oder Schwager sein konnten, und sie hatte das älteste Kind bei sich, einen sieben Jahre alten Jungen, der mit verschlossenem Gesicht dastand, in der Kälte und mit all den Menschen um ihn herum.
Anita Solheim war weitaus lebendiger, in einem Pelz, der bessere Tage erlebt hatte, wie sie auch, aber der Kopf war erhoben, und sie überwachte die Ankommenden mit einem Falkenblick, wie ein Restaurantchef diskret die Gäste einer geschlossenen Gesellschaft kontrolliert. Vielleicht hielt sie auch nur nach jemand Bestimmtem Ausschau.
Die Tochter Sissel stand an ihrer Seite, in einer dunkelblauen Cordhose und derselben Daunenjacke, in der ich sie schon gesehen hatte. Eine Gestalt, die Ruth hätte sein können, konnte auch ich nicht entdecken.
Ich hatte frühmorgens Vegard Vadheim angerufen und ihm von meiner mißglückten Expedition ins Nordhordaländische erzählt. Ich hatte gesagt, daß er doch bei der Beerdigung auftauchen sollte, und er hatte gebrummt: »Das hatte ich auch vor, Veum.«
Danach hatte ich Belinda Bruflåt angerufen, aber sie nahm nicht ab. Jetzt kam sie vom Molledalsvei den Berg herauf, in einem zotteligen Kaninchenfellmantel und mit einer ebenso zotteligen Fellmütze auf dem Kopf. Sie ging wie eine Diva, aber unter der Schminke hatte sie einen Gesichtsausdruck, der verriet, daß sie höchst unsicher war, welche ihrer beiden Rollen sie bei dieser Gelegenheit spielen sollte. Zwei Schritte hinter ihr ging Stig Madsen, fast wie ein Agent eines Beerdigungsinstituts.
Daß Johnny Solheim im lokalen Rock-Milieu etwas bedeutet hatte, zeigte die große Anzahl von früheren Kollegen und Konkurrenten, von Rune Larsen bis Tom Harry Halvorsen, über ein breites Spektrum von bekannten und halbbekannten Gesichtern. Wie Gespenster entstiegen sie den verblaßten Plakaten vom Anfang der 60er Jahre. Es war, als seien die Rockauftritte in der Espelandshalle erneut zum Leben erwacht und sollten hier und jetzt in der Wiederholung gezeigt werden, in voller Lebensgröße und guten Mutes. Aber ob sie alle auch immer noch spielen konnten, dessen war ich mir beileibe nicht so
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