Gefallene Engel
Hei.«
»Hei.«
Später. Das war der Gewinn des Tages, das Zauberwort, durch das sie alle entwischten, mit dem ich dann dasaß, wie wenn man eine zwei Tage alte Zeitung durchblättert.
Ich wählte Belinda Bruflåts Nummer, ohne Erfolg.
Dann erfuhr der Rest der Menschheit seine verdiente Strafe. Ich rief nicht einen einzigen von ihnen mehr an.
Thomas und ich verbrachten einen ereignislosen Samstag miteinander. Ereignislos für alle anderen als uns selbst.
Wir waren im Zentralbad schwimmen, saßen in der Sauna wie alte Kameraden, kauften Samstagszeitungen, als hätten wir schon angefangen, für das Sankthansfeuer zu sammeln, suchten uns einen ruhigen Tisch in einem noch stilleren Café, aßen ein billiges Mittagessen mit Mineralwasser dazu und verteilten beim Kaffee die Zeitungen untereinander.
Ich schielte ab und zu zu ihm hinüber.
Es war merkwürdig, hier zu sitzen und mit seinem eigenen Sohn zusammen Zeitungen zu lesen. Er hatte in diesem Jahr die Fünfzehnjahregrenze überschritten, die Konfirmation lag hinter und das Leben vor ihm. Ich war ganz und gar nicht sicher, ob ich ihn beneidete.
Er hatte einen ordentlichen Schuß gemacht. Vor ziemlich genau zwei Wochen hatte er den letzten Zentimeter erobert, der ihm noch gefehlt hatte, um mich zu überholen. Sein Haar war dunkler geworden, er hatte begonnen, sich zu rasieren, jedenfalls einmal im Monat, und sein Gesicht barg neue Geheimnisse. Es gab Dinge, auf die er keine Antwort geben wollte, und Gedanken, die er nicht mehr teilen wollte. Er war ein Schiff, daß vom Stapel lief, nach fünfzehn Jahren im Dock. Bald würde er auf dem dunkelsten aller Meere verschwinden: dem erwachsenen Leben. Er war auf dem Weg in fürchterliche Fahrwasser, mit Piraten hinter jeder Schäre, und das Kind, das er einmal gewesen war, war dabei, endgültig zu verschwinden. Noch einer, der die Engelsflügel abstreifte und sie liegenließ, bevor er ging, irgendwo auf einem zufälligen Regal in einem verlassenen Kinderzimmer.
Kinder sind so – wie Jogger, denen man nachts begegnet. Sie kommen von weit her, direkt auf dich zu und dann, plötzlich, sind sie weg. Und du läufst weiter durch das Tal, allein.
Nachdem die Zeitungen das Ihre dazu beigetragen hatten, unsere Verdauung zu stören, gingen wir wieder hinaus auf die Straße, kurz in einen Videoverleih und weiter bergauf.
Draußen im Westen baute sich eine kolossale, grauschwarze Wolkenbank auf. Sie war wie ein Signal aus einer Zwischenkriegszeit, eine böse Ankündigung von Dunkelheit, ein letzter, schicksalsträchtiger Gruß an die Flüchtlinge des Herbstes.
Einmal im Laufe des Abends fragte ich ihn: »Als du im Frühjahr konfirmiert wurdest, Thomas … Hat dir das etwas bedeutet? Ich meine, war es was, an das du aufrichtig geglaubt hast, oder hast du es nur getan, weil alle anderen … weil man es eben tut?«
Er sah mich lange an, während er über die Antwort nachgrübelte, bevor er eine Gegenfrage stellte. »Wie war das bei dir, damals, als du konfirmiert wurdest?«
»Mit mir?« Ich war kopflos verliebt gewesen, in Rebecca, aber sie war gerade in dem Jahr in einen anderen Stadtteil gezogen, und ich hatte für eine kurze Zeit in den Konfirmationsvorbereitungen Trost gefunden. Vielleicht hatte ich sie deshalb so ernst genommen. »Ich …«
»Siehst du – das ist gar nicht so leicht zu beantworten«, sagte er und sah mich ernst an.
»Vielleicht sollten wir morgen in die Kirche gehen?«
»Wir?« Er sah mich skeptisch an, und wir kamen vor dem nächsten Morgen nicht auf das Thema zurück.
Doch, er wurde wirklich erwachsen. Er hatte gelernt, nicht auf das zu antworten, wonach er gefragt wurde, sondern alle unangenehmen Fragen mit einer neuen zu parieren. Genau wie beim Schachspiel hatte er die Spielregeln noch besser gelernt als der Vater. Jetzt waren wir ebenbürtig.
42
Ich erwachte in einem neuen Licht.
Im ersten Moment begriff ich nicht, was geschehen war. Aber dann wußte ich es. Ich war, seit ich geboren wurde, jedes Jahr einmal im selben Licht erwacht.
Ich setzte die Füße auf den kalten Boden und ging ans Fenster. Es war überwältigend. Es war nicht einfach nur der erste Schnee gefallen, es war ein halber Meter, und das ist selten in unserem Teil des Landes.
Wie ein gedämpfter Triumph waren die Schleier auf die Stadt gefallen, hatten sich über Hausdächer und Autos gelegt, hatten die Straßen zu ungepflügten Wiesen aus Baumwolle gemacht und, weil zusätzlich noch Sonntag war, eine Stille über die Stadt
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