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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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heran und sagte: »Ist es nicht an der Zeit, daß du mir alles erzählst – was damals passiert ist, 1975?«
    Sein Blick flackerte. »Alles? Dir erzählen? Warum sollte ich …«
    »Weil das alles so viel einfacher machen würde. Ich werde es sowieso herausfinden. Und dann wird es so viel auffälliger, zu entdecken, was du mir nicht erzählen wolltest – die Frage: warum? – Ich beginne, das Bild ziemlich klar vor mir zu sehen, verstehst du?«
    »Dann lauf nach Hause und mal es dir auf!«
    »Vielleicht tue ich das, jetzt sofort. – Du weißt, daß Ruth in der Stadt ist?«
    »R-r-r …«
    »Ruth Solheim, ja. – Du weißt vielleicht sogar, wo sie ist?«
    »Ich habe keine Ahnung. Sie – und was ist mit …«
    »Aber ich weiß, wer es weiß. Und wenn ich sie endlich treffe – Ruth, dann bin ich mir ziemlich sicher, und du weißt das, Jakob, daß dann das Bild vollständig sein wird.«
    Er sah an mir vorbei. »Ja, vielleicht. – Ich – geh dann wohl«, sagte er dünn. »Wie gesagt, ich habe eine Verabredung.« Er band den Schal stramm um den Hals, sah noch einmal Thomas an, als verstünde er nicht, was er dort zu suchen hätte, und ging die Treppe hinunter.
    Ich blieb einen Augenblick stehen und sah ihm nach. Ich fühlte es. Etwas war vorbei. Für immer.
    Dann sah ich Thomas an und zuckte mit den Schultern, und gemeinsam gingen wir hinter Jakob her die Treppe hinunter.
    Der Kirchendiener stand an der Tür und wartete ungeduldig, daß wir hinausgingen. Die Bürozeit war vorbei. Gott war nach Hause gegangen.

43
    Während wir drinnen gewesen waren, waren die Hauptstraßen geräumt und auf dem Asphalt Salz gestreut worden. Braunversengte Schneeberge waren an den Straßenrändern aufgeworfen, und um den Wagen vom Parkplatz zu bekommen, mußte ich meinen kleinen Feldspaten aus dem Kofferraum hervorholen. Danach folgten wir den dunklen Asphaltstreifen nach Hause, quer durch die Stadt und den Fjellhang hinauf. Um uns herum stieg der Rauch aus tausend Schornsteinen auf, wie von den Lagerfeuern rund um eine belagerte Stadt.
    Noch immer gingen Leute auf Skiern über den Marktplatz. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten, ohne den Vorhang zu durchbrechen, und das Fjell lag weiß wie ein ungebackenes Brot da und wartete auf uns. Die Floienbahn fuhr pausenlos, mit überfüllten Wagen, so daß wir uns entschlossen, zu Fuß zu gehen, nach oben. Der Schnee war zu plötzlich gefallen, und die Skier, die er bei mir stehen hatte, waren seit dem letzten Jahr zu klein geworden, also gingen wir zu Fuß.
    Jemand hatte vor uns eine tiefe Spur getreten. Trotzdem versanken wir bis fast zu den Knien. Es war ein Gefühl, wie in Alaska auf Kaninchenjagd zu sein, in dem Jahr, wo alle Kaninchen nach Australien gegangen und wir die einzigen waren, die die Nachricht nicht erhalten hatten.
    Oben auf dem Midtfjell lag ein Märchenwald und wartete auf uns. Die Bäume beugten sich wie schwangere Frauen, und die Menschen, denen man auf dem Weg begegnete, sprachen andächtig und leise, als wären sie in der Kirche. Vielleicht waren sie das auch. Für die meisten Menschen ist die Natur die einzige Kirche, die sie besuchen. Nirgendwo sonst erhebt das Dach sich höher. Nirgendwo sonst ist das Göttliche näher.
    Der Winter hatte eine Schlinge um das Licht gelegt, und die Wintersonne hatte das Tau schnell gestrafft. Hinter den Bergen im Südwesten breitete sich eine schwache Röte über die grauweiße Leinwand aus, bevor alles weggewaschen wurde, mit Tinte.
    Als wir nach Hause kamen, schoben wir eine Form mit Kartoffeln in den Ofen, die ich im voraus vorbereitet hatte, kochten Broccoli und brieten uns jeder ein Steak, bevor wir die Nachmittagsmüdigkeit sich wie einen Pelzkragen um uns legen ließen, während uns das Wunschkonzert im Radio in die 50er Jahre zurückführte, als sei seit damals nichts geschehen. Sie spielten jedenfalls ständig dieselbe Musik.
    Zwei- oder dreimal im Laufe des Nachmittags wählte ich die Nummer von Belinda Bruflåt, ohne Erfolg. Schließlich entschloß ich mich, sie persönlich aufzusuchen, nachdem ich Thomas nach Hause gefahren hatte.
    Wir fuhren gegen acht Uhr. Es war kalt, und der Abendfrost hatte den Himmel von Wolken gereinigt wie eine Art chemisches Bad, die Sterne ins Licht hervorgezwungen und die Fahrbahn zu einer frischpolierten Tanzfläche gemacht. Ich fuhr 40 und hatte trotzdem Probleme, den Wagen unter Kontrolle zu behalten.
    Wir verabredeten das Nötige für die Weihnachtstage. Heiligabend sollte er zu Hause

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