Gefallene Engel
schnell durchspülen würden, um uns dann schließlich an einem unbekannten Strand an Land zu spülen, wie Robinson Crusoe und Freitag, in einem Jahrzehnt, in dem wir uns beide nicht zu Hause fühlten?
Ich starrte in mein Glas. »Wann hast du … sie für dich entdeckt?«
Er starrte, wie eine Art Landvermesser, über den Rand seines Glases ins Leben. »Das weiß ich nicht mehr genau. Am Anfang war es übrigens sehr schwierig, in der Schlange der Bewunderer nach vorn vorzudringen.«
»Waren wir – waren denn da so viele?«
»Außerdem – sie ging ja nie tanzen. Es war immer einfacher für uns Musiker, von der Bühne aus Mädchen aufzureißen. Da brauchtest du nichts zu sagen. Brauchtest dir keine angestrengten Witzigkeiten auszudenken. Es genügte, sie mit dem Blick einzufangen, ein besonders vibrierendes Gitarrensolo zu spielen, oder, nachdem ich das Instrument gewechselt hatte, einen Orgelton bis ins äußerste Sinnliche zu dehnen. Jedenfalls, sie in einem Netz von Tönen zu fangen.«
»Das klingt ganz einfach.«
»Es waren andere, die mit ihr ins Bethaus gegangen sind.«
»Versammlungshaus«, berichtigte ich.
»Aber dann … Wann war das …?«
»Vielleicht 1962?«
Er warf mir einen schnellen Blick zu. »1963 muß es gewesen sein. Wir machten 1961 Abitur, oder? – Auf dem Gymnasium war jedenfalls immer irgendwer vor mir in der Schlange.«
Ich sah ihn plötzlich direkt an. »Warum nennst du ihn die ganze Zeit irgendwen? Da war ich, Jakob! Ich war es.«
»Jaja, das weiß ich doch! Wir beiden waren einander wohl nie näher als in diesen Jahren. Warum glaubst du, hab’ ich mich zurückgehalten? Ich wußte ja, was sie dir bedeutete. Wer, zum Teufel, hat denn schon Lust, seinem besten Freund das Mädchen auszuspannen?«
»Sie war nie mein Mädchen«, murmelte ich. »Sie war nur eine, für die ich – mich interessierte.«
»Interessieren!« schnaubte er. »Aber dann … Ich kam kurz von See nach Hause. Ich war von 1962 bis ’64 auf See, du erinnerst dich vielleicht.«
»Mensch, na klar!«
»Und als ich im November ’63 nach Hause kam, hörte ich – von euch.« Und kurze Zeit später, an einem Freitagabend, hatte ich vor einer Haustür in der Håkonsgate gestanden und mit einem Mädchen gesprochen. Durch ein heruntergekurbeltes Autofenster ganz in der Nähe hatte ich Harry Belafonte singen hören, mit einer von Jamaikasonne zitternden Stimme, als hätte sich das Zuckerrohr selbst geöffnet und sänge: Take me, take me – ’cause I’m feeling lonely, take me back to Lucy’s door, but don’t let her mother know …, bis jemand das Radio unnatürlich laut aufdrehte und ein aufgeregter Reporter etwas erzählte, von dem wir nur Stichworte verstanden, wie: »Präsident Kennedy« und »Dallas, Texas«. – Ich war einundzwanzig Jahre alt, und genau da, in genau dem Augenblick, wußte ich, daß die Zeit der Unschuld endgültig vorbei war und mir nun der Rest des Rennens bevorstand.
Er sah weg. Die Platte war zu Ende. Er ging und legte noch einmal die erste Seite auf: » Baby you can drive my car – and maybe I’ll love you …«
Als er sich setzte, nickte er wieder zum Plattenspieler und sagte: »1965. Das war das Jahr, in dem wir geheiratet haben.«
Ich antwortete nicht.
Er sagte zögernd »Wo warst du … da, Varg?«
»1965 war ich den größten Teil des Jahres in Oslo.« Bitter fügte ich hinzu: »Das war das Jahr, in dem ich versuchte, Jura zu studieren, in Kristiania, der Stadt, die kein Mensch verläßt, ohne daß sie ihn gezeichnet hat {4} … oder weiß der Henker, wie es heißt, in dem Buch.«
»Aber du hast dein Studium – nicht beendet?«
»Nein. Ich habe ziemlich bald begriffen, daß ich nie etwas anderes als eine billige Kopie von Alf Nordhus {5} werden würde. Also ging ich zurück nach Bergen und soff mich noch ein halbes Jahr lang durch, während ich so tat, als würde ich Sprachen studieren, mit Frauen schlief, die gerade zur Hand waren, um nicht zu sagen zum Schwanz, und machte mich durchweg unbeliebt in den meisten Kreisen, die ich heimsuchte. Im Jahr darauf ging ich nach Stavanger und fing an der Hochschule für Sozialwesen an, traf Beate und bekam ein bißchen mehr System in mein Dasein.«
Dann saßen wir wieder stumm und hörten den Beatles zu, in einer Welle der Nostalgie gefangen und irgendwo ans Ende der 60er Jahre zurückversetzt.
»Waren wir 68er, Varg?«
»Nein. Wir waren wohl eher 58er. Mit Elvis und Tommy Steele großgeworden, und Vorbildern wie James Dean und
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