Gefallene Engel
zu einem Karnevalszug durch die bunteren Teile der Hölle.
Ich schlief nicht gerade viel, und früh morgens wurde ich wieder nach oben zu den Gerechten geholt.
19
Ich sah mich verwundert in Vegard Vadheims Büro um. Vadheim lächelte mild. »Hattest du jemanden anders erwartet?«
»Ich dachte … Muus …«
»Hatte nur Wochenenddienst. Dies ist unser Fall. Meiner und …« Er nickte in Richtung Schreibtischkante, zu der großen, blonden Frau hin, die dort in einem sittsamen, braunen Hosenrock und einer weiten, weißen Hemdbluse saß. »… Polizeikommissarin Jensen.«
Die Frau lächelte schief. Sie hatte eine etwas zu große Nase, klare, blaue Augen, die weit auseinanderlagen, gerötete Wangen und eine Art nervöser Energie. Ich verbeugte mich leicht vor ihr.
»Du erinnerst dich noch an Eva Jensen, Veum?« fragte Vadheim.
»Ich erinnere mich an Eva Jensen«, antwortete ich. »Wenn sie sich noch an mich erinnert.«
Sie lächelte. »Wie könnte ich je vergessen …«
Bei einer Gelegenheit hatte sie mich beschattet – und mir indirekt das Leben gerettet. Ein anderes Mal hatte sie mich nach meinem ersten Marathonlauf ins Ziel kommen sehen, mehr tot als lebendig. An welches Mal sie sich besser erinnerte, dessen war ich mir absolut nicht sicher.
»Also ihr habt den Fall«, sagte ich leichthin. »Und wo ist mein Platz in dem Ganzen?«
»Zuerst mal auf dem Stuhl da«, sagte Vadheim und wies mit einer großzügigen Geste auf den freien Stuhl auf der unbehaglichen Seite des Schreibtisches.
Vegard Vadheim war selbst ein fähiger Marathonläufer, mit Zeiten wie 2.59 und besser. Vor ziemlich genau dreißig Jahren lief er im 10000-Meter-Finale in Melbourne, kam als vierter ins Ziel und brachte Norwegen eine der wenigen Plazierungen bei der Sommerolympiade in dem Jahr. Sein Haar war dunkel, wurde aber mittlerweile langsam grau. In den braunen Augen lag ein ewig melancholischer Zug: der Widerschein der zwei Gedichtbände, die er veröffentlicht hatte, was fast genauso lange her war wie sein Olympiaeinsatz. In Rom war er nicht mehr dabei. Da hatte er schon den Parnaß bestiegen, mit einem aufsehenerregenden Lyrikdebüt, 1959, gefolgt von einer ebenso handfesten Sammlung 1961. Aber danach war Stille. In der norwegischen Literaturgeschichte würde Vegard Vadheim kaum etwas anderes sein als eine Fußnote. Bei der Kripo in Bergen war er eindeutig einer der vier Großen.
Vegard Vadheim lehnte sich über den Schreibtisch. »Tut mir leid, daß du hier übernachten mußtest, Veum. Daran ist eher Dankert Muus Veranlagung – oder sollen wir sagen Haltung dir gegenüber – schuld als irgendwas anderes.«
Ich nickte und hob resigniert die Hände, wie um zu sagen, daß ich keinen Staranwalt engagieren würde, um sie zu verklagen. Außerdem hatte ich schon Schlimmeres erlebt, auch in selbigem Hause.
»Aber du warst es also, der ihn gefunden hat? Den Toten.«
Ich nickte. »Johnny Solheim.«
»Und du warst – allein?«
Ich nickte wieder. »War keine Menschenseele zu sehen. Aber es war wenigstens eine zu hören.« Ich erzählte ihm von den laufenden Schritten.
»Du hast nicht versucht hinterherzulaufen?«
»Als ich sie hörte, war das noch nicht aktuell. Nachdem ich ihn gefunden hatte, war es zu spät.«
»Aber dieser Laden. Dieses sogenannte Hot Spot. Warst du allein da hingegangen?«
»Nein, nein. Ich war da zusammen mit einem alten Klassenkameraden. Jakob Aasen. Aber er war schon gegangen.«
»Und dieser Jakob Aasen, wer ist das? Abgesehen davon, daß er ein früherer Schulkamerad ist.«
»Durchaus respektabel, denke ich. Organist bei der Staatskirche. Komponist in der Freizeit. Ehemaliger Star der Bergenser Popwelt. Du hast vielleicht von ihnen gehört. Die Harpers? Die Harfenjungs?«
»Er auch?«
»Richtig. Dieselbe Band, in der auch Johnny Solheim gespielt hat. Früher mal.«
Er notierte eifrig. »Interessant. Sehr interessant. Und was machtest du – bei der Band, meine ich. Instrumente tragen?«
Ich lächelte schief. »Das kam tatsächlich vor, ein paar mal. Aber im großen und ganzen kannte ich sie einfach nur. Johnny Solheim kam aus der selben Gasse wie ich. Wir sind alle drei im selben Viertel aufgewachsen.«
»Aha.« Er notierte fertig. »Dann lautet die nächste interessante Frage wie folgt: Was wolltest du von ihm – Johnny Solheim – am Samstag?« Er sah kurz auf seine Notizen. »Ja, denn du hast ihn doch gefunden, oder?«
»Stimmt.«
»Warum?«
»Es war – eine Art Freundschaftsdienst.«
»Ach
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