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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Baustelle, lange bevor wir anderen die Spielzeugrevolver weggelegt hatten, mit dunklem Haar und noch dunklerem Blick, verhexend wie eine Trollfrau und eine endlose Quelle für Gerüchte.
    Und da waren andere Mädchen, die kamen und gingen, oder Mädchen, die einfach nur da waren, selbstverständlich den größten Teil der Zeit, um dann plötzlich – in einer bestimmten Periode unseres Lebens – bedeutungsvoll zu werden. Da war Anita, die als ein Pullovertraum fast unsere ganze Kindheit begleitete, bis der Johnny sie raubte für ein Hausfrauendasein in Paddemyren. Da war Lillian, der wir Jungs der Reihe nach an die Muschi fassen durften – vorsichtig, als könnten wir uns verbrennen – hinter den Baracken am Nordnespark, bis die Größeren sie mit in den Park nahmen und – vielleicht – andere Dinge mit ihr taten. Da war Annemette, die große Zuschauermengen anzog, wenn sie, langbeinig und attraktiv, mit großen Zähnen und kleiner Nase, in der Schülerpatrouille im Haugevei stand. Und das war nur der Anfang.
    Später, auf der Realschule und im Gymnasium, trafen wir andere Mädchen aus anderen Stadtteilen. Wir lernten, lange Radtouren bis nach Sandviken oder ins Inntal hinauf zu machen, wir fuhren nach Paradis und Laksevåg und lernten die Namen von neuen Straßen im Zentrum und auf Skansen. Es gab Mädchen, die nur vorbeiglitten wie Züge in der Nacht, und es gab Mädchen, die blieben eine Zeitlang, mit Namen, die mir später immer kurz flaue Gefühle in der Magengegend bereiteten, wenn ich sie für mich selbst wiederholte, im stillen. Mädchen, die sich einbrannten wie Bilder. Gro mit Regentropfen im Gesicht, hellblauer Regenjacke und einer gespannten, weißen Sehne an der Seite des Halses, unter einem Baum irgendwo in Fana, wo wir mit der ganzen Klasse auf Radtour waren. Svanhild mit dem glatten, dunklen Haar, mit der ich zwei lange Tänze tanzte, auf einer Schulfahrt nach Mjolfjell, während auf dem Plattenteller die Everly Brothers I do my crying in the rain sangen. Da waren Jahreszeiten im Taumel, mit Kämpfen gegen BHs und Hüfthalter, Strumpfbänder und enge Taillen, dem Duft nach Maiglöckchen und Honig, frischgemähtem Heu und fallreifem Obst. Da waren atemlose Ritte über endlos lange Bergkämme von Geilheit und Sehnsucht, Träume legten sich über Träume, bis endlich, eines Tages, in einem verhexten Augenblick, eine gepriesene Seele dir ihren Weinkelch zum Trunk reichte, vorsichtig, oh, so vorsichtig, mit Kondomen, stotternd über einen Tresen in der Jonsvollsgate erstanden, übergezogen als Gamaschen zum Schutz gegen Schneetreiben und plötzliche Wetterumschwünge; ein Mädchen, das Elisabeth hieß und kurzsichtig war, das aber endlich die Brille abgenommen hatte, im Bett der Eltern, mit geliehenen Laken …
    Gesichter, die ineinander übergingen. Nur eines war deutlicher als alle anderen. Denn durch all diese Jahre des Hin und Hers gab es keine, die präsenter war als Rebecca.
    Ich schloß die Augen.
    Rebecca.
    Rebecca und Johnny Solheim.
    Ich öffnete sie wieder und schüttelte den Kopf.
    Ich hatte sie seit so vielen Jahren nicht gesehen, daß es mir unmöglich war, sie mir in den Armen von Johnny Solheim vorzustellen, ohne mir eine andere Rebecca vorzustellen als die, die ich auf dem Bild gesehen hatte, das mir Jakob gegeben hatte. Eine jüngere Rebecca, »meine« Rebecca, die aus unserer Straße weggezogen war, 1956, und die ich wiedertraf, zwei Jahre später, als wir auf das Gymnasium kamen.
    Einige Augenblicke sind in die Erinnerung eingemeißelt. Ein solcher Augenblick war die Situation auf der Empore im Bethaus, als unsere Blicke sich begegneten in einem stummen Versprechen, während ihr Vater vor der Gemeinde unter uns sprach. Ein anderer Augenblick war der Tag im August 1958, als wir zu dem ehrwürdigen, gelben Schulgebäude kamen, das eine einsturzgefährdete Turnhalle verbarg und das, wie böse Zungen behaupteten, noch aus Holbergs Zeiten stammte, und zu dem Neubau, in dem noch ein halbes Jahr nach Ingebrauchnahme der Geruch von Leim und Farbe hing. In einem Rudel von Mädchen vor dem Haupteingang stand sie plötzlich, mir halb den Rücken zugewandt, und ich ging in einem Halbkreis um sie herum, bis ich ihren Blick einfing und sah, daß sie es wirklich war, und sie schielte zu mir herüber und sagte, geniert: Hei, Varg. – Und ich: Hei. – Und dann stellte sich heraus, daß wir in dieselbe Klasse kommen sollten.
    Drei Jahre gingen wir zusammen in eine Klasse. Wir wurden an

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