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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Johnny Solheim.
    Er war ein Jahr älter als wir und viele Jahre stärker, und wir hatten immer großen Respekt vor ihm gehabt, nicht zuletzt, weil die Brutalität, die er zu Hause erlebt hatte, einen unberechenbaren Zeitgenossen aus ihm gemacht hatte. Wie ein Tornado konnte er die Gasse herunterkommen, nach Ost und West um sich tretend, mit geballten Fäusten schlagend und fluchend wie der letzte Seemann.
    Nach dem 17. Mai, als sein Vater ihre Möbel aus dem Fenster geschmissen hatte, während Johnny und seine Mutter oben am Nordnesveien gestanden und auf ein Taxi gewartet hatten und Johnny dem Vater mit den Fäusten gedroht und gesagt hatte: Ich bring’ dich um! Ich bring’ dich um! – nahm der Vater das als Wink, packte den Koffer und verschwand endgültig. Wir sahen ihn nie wieder. Aber der Johnny genoß größeren Respekt als je zuvor.
    Danach wurde er in gewisser Weise Familienoberhaupt, hatte plötzlich etwas Erwachsenes an sich, das ihn noch weiter von uns entfernte, bevor er wieder in unser Leben kam, am Ende der 50er Jahre, als Leadsänger und Galionsfigur der Harpers, eine lokale Mischung aus Elvis und Ricky Nelson, mit einer Beinarbeit, die er von den Kinositzen im Forum und im Logen aus einstudiert hatte, einem ordentlichen Vibrato in den Stimmbändern und einem betörenden Blick, den der Klabautermann nicht besser hinbekommen hätte. So war er es denn auch, der mit Anita abzog, der üppigsten Trophäe in der Straße.
    Jetzt hatte die Drohung, die er einmal gegen seinen Vater ausgesprochen hatte, sich gegen ihn gewandt, Anita war längst Vergangenheit, und sowohl die Beinarbeit als auch den betörenden Blick würde er woanders als hier unten anwenden müssen. In einem Plattenstudio, daß niemand von uns kannte, machte er seine erste LP beim größten Manager von allen.
    Hier unten hatte er zwei LP’s signiert: die etwas verspätete Bergen-Beat-LP der Harpers 1964, gegen Ende ihrer großen Zeit, und eine Solo-LP 1967, die alle vergessen hatten, ausgenommen seine schlimmsten Feinde. Und trotz alledem hatte er mehr erreicht als ich. Er hatte jedenfalls der Zeit seinen Stempel aufgedrückt, und solange in Bergen noch Leute lebten, die sich an genau diese Zeit erinnern konnten, würden sie sich an Johnny Solheim erinnern, jedenfalls die meisten von ihnen.
    Ich öffnete die Augen und starrte an die graue Decke über mir.
    Und wo anders hatte ich meinen Stempel hinterlassen als auf der Innenseite der Umschläge von Schulbüchern, die längst im Ofen gelandet waren, und in einigen Augenblicken im Leben gewisser Leute, die diese wahrscheinlich am liebsten vergessen würden?
    Es war in der Zeit, als die Mädchen in unser Leben zurückkehrten, nachdem wir ein paar Jahre lang nur unter uns Jungs gewesen waren.
    Wenn ich an sie zurückdachte, dann schienen ihre Gesichter ineinander überzugehen, genauso plötzlich, wie man damals von einer Verliebtheit in die nächste geworfen wurde – und dann wieder zurück zur ersten. Es waren dunkelblonde Mädchen mit Brillen im Herbst, hellblonde mit sonnenverbrannter Haut im Sommer, rothaarige Mädchen mit Locken auf Skiern im Fjell im Winter – und eine reiche Auswahl Mädels im Frühling.
    Aber die tiefsten Verliebtheiten brachte der Herbst. Da brauchte man Wärme aus neuen Sonnensystemen. Da waren die Straßen dunkel und regennaß und warteten darauf, daß man Hand in Hand um das Store Lyngegårdsvann herumging, sich am Dr.-Martens-Krankenhaus küßte und den ganzen Weg über Molledalsbakken und weiter, bis die beleuchteten Straßen bei der Nygårdsbrücke und Florida entlang das Ganze etwas schwieriger machten, in Norwegen, Ende der 50er Jahre.
    Da war Sylvelin, die aus einem anderen Stadtteil kam und nur ein Jahr oder zwei draußen bei uns in der Straße wohnte, mit Sonnenschein im Haar und Frühlingswind in den Augen, einem breiten, gesunden Gesicht, einem großen, spontanen Lächeln und schon damals einer Andeutung von Lachfältchen in den Augenwinkeln. Sie ging auf flachen Schuhen durch unsere Herzen, und wir rührten sie niemals an.
    Da war die robuste Reidun, rothaarig und mit großzügig über das fröhliche Gesicht verstreuten Sommersprossen. Mager und sehnig, war sie im Fußball besser als die meisten von uns, und ihre Küsse sparte sie auf für die Fußballspieler mit Moped aus Fridal und Landås.
    Da war Lisbeth, die aus der Tiefe auftauchte, zu einem Hintergrundslärm aus Besoffenengegröle und Flaschengeklirre, mit einem ersten sexuellen Erlebnis auf einer

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