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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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verschiedene Plätze im Klassenraum verpflanzt, so daß die Diagonalen zwischen uns sich ständig veränderten. Aber wir waren da. Im selben Raum. Wir lauschten. Denselben Stimmen. Und von Zeit zu Zeit begegneten sich unsere Blicke, über Jakobs oder eines anderen Kopf hinweg, und mit schwachen Lächeln knüpften wir dünne, fast unsichtbare Bande zwischen uns, die uns erst nachdem die Schulzeit vorbei war, fester aneinander binden sollten, eine kurze Weile, bevor sie endgültig durchtrennt wurden und wir jeder in seine Richtung auseinandergingen, für immer.
    Sie war noch immer ein junges Mädchen, mit kantigen Bewegungen, mit offensichtlichem Morgengähnen in den ersten Stunden, halbersticktem Kichern, wenn jemand etwas Witziges sagte, und einem leichten Zug von Feierlichkeit, wenn jemand aus irgendeinem Grund auf Religion zu sprechen kam.
    Sie ging jede Woche zu Treffen des Christlichen Jugendbundes, und ein paarmal konnte ich Jakob überreden, mitzukommen, zum Versammlungshaus im Kalfarvei, ohne daß er begriff, weshalb. Er langweilte sich denn auch offensichtlich, während ich da stand und ihr hellwach und angespannt mit den Blicken folgte, wenn sie die Hände faltete, den Nacken beugte und zu einem Gott betete, den ich nicht kannte.
    Eine kurze Zeit lang hatte sie sich in den Kopf gesetzt, mich zu bekehren, aber als sie sich querulantischen Fragen wie, wer denn Kains Frau gewesen sei und woher die Engel kämen und wo sich denn Jesus zwischen Karfreitag und Ostermontag aufgehalten hätte, gegenübersah, sah sie bald ein, daß es vergeblich war, und ohne etwas dagegen tun zu können, verlor ich genau da ein Stück von ihr.
    Ein dritter Augenblick war der, als alles verstummte, die Stimmen aus den anderen Räumen ausgelöscht wurden und wir nichts anderes mehr sahen, als daß wir allein waren. Und weil es so bestimmt war, daß es gerade da geschehen sollte, beugte ich mich langsam zu ihr. Und weil sie mich gekannt hatte, seit wir beide klein waren, und weil wir fast wie Geschwister waren, bekam ihr Gesicht einen Zug von spürbarer Geniertheit, als sie es kaum merklich erhob und darauf wartete, daß ich sie erreichte. Und dann küßte ich sie. Genau da und dort, an einem Gewitterabend im Juni 1961 küßten wir uns, und das …
    Ich öffnete die Augen und starrte an die Decke.
    … das ist mein Stempel. Da hinterließ ich meinen Stempel, und später haben viele andere ihren Stempel darüber gedrückt und da waren sicher schon ein paar von vorher, aber genau dieser, genau da war es mein Stempel, Rebecca.
    Ich schloß die Augen wieder und spürte den Duft ihrer Haare, die Haut, die nur einen leichten Hauch von Parfum trug, und konnte immer noch den zarten Druck ihrer Lippen fühlen, in diesem weichsten Kuß, den ich jemals bekommen sollte.
    Dann flimmerte die Erinnerung schnell weiter, und wir standen vor einer Haustür in Landås, und sie spähte zum Fenster, um zu sehen, ob der Vater dort stand und wartete, und sie mußte laufen, und die letzten Küsse wurden nur flüchtig, flüchtig; und es flimmerte und flimmerte; und ich traf sie mit anderen, und ich stand da, die Hände in den Taschen und sah ihnen nach, und ich bekam dies kleine Stück von ihr, das ich einmal verloren hatte, niemals zurück. – Die Versprechen bleiben bestehen, hatte die Gemeinde ihres Vaters gesungen, während wir dort oben auf der Empore saßen, aber schließlich hatte sie mir auch nie etwas gelobt. Das wurde mir damals klar, obwohl es noch mehrere Jahre dauerte, bis ich es wirklich begriff, daß Rebecca nie mir gehören würde. Nicht auf diese Weise.
    Ich fuhr zur See, und als ich im Herbst 1963 zu Hause war, traf ich sie und erfuhr, daß sie mit Jakob zusammen war, und das Gespräch stockte. Als ich 1965 aus Oslo zurückkam, waren sie verheiratet.
    Aber manche Augenblicke sind für immer ins Bewußtsein eingemeißelt. Und manche Küsse können nicht ausgewischt werden. Gewisse Dinge trägst du immer mit dir herum, für alle Zeit.
    Rebecca.
    Jakob hatte mich gebeten, sie zu finden, und Johnny Solheim war tot. Ermordet. Der Johnny, mit dem sie ein Verhältnis gehabt hatte, vor ein paar Jahren.
    Plötzlich wußte ich, daß es unumgänglich war. Es würde geschehen. Ich würde sie wiedersehen, jetzt, auf welche Weise auch immer. Nach so vielen Jahren.
    Dann erklangen die Fanfaren der Gefängniswächter, es rasselten Schlüsselbunde, und die versoffenen Horden der Nacht nahmen die Ausnüchterungszelle in Besitz und machten die Untersuchungshaft

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