Gefallene Engel
einzutreten, die vergeblich darauf warten, daß ihr Anwalt endlich mit der freudigen Mitteilung kommt, daß sie auf der anderen Seite anerkannt sind. Dann können sie mit müdem Lächeln den Wartesaal verlassen, sich zum letzten Mal umsehen und es den Hinterbliebenen überlassen, die Koffer zusammenzupacken. Denn die nehmen sie nicht mit. An der Grenze gibt es nichts zu verzollen.
In einem Pflegeheim wartet dein eigenes, ungewisses Alter auf dich mit hungrigen Blicken. Hier, auf den sicheren Korridoren der Institution, wirst du vielleicht selbst einmal entlangstapfen, in deinen letzten Lebensjahren, und nach einem verlorenen Schlüssel suchen, einem Codewort, das du nie auswendig gelernt hast. Denn die Tür ist noch immer verschlossen.
Ich kam in der angespannten Stunde vor dem Mittagessen an. Aus den Küchenräumen klangen hektisch Metall und Steinzeug, weißgekleidete Pfleger hasteten vorbei, mit Bettpfannen in die eine Richtung, dampfenden Handtüchern in die andere, lächelnd wie Marionetten, am Rande des Zusammenbruchs wegen der schlechten Personalsituation und zu vielen Überstunden, auf unspezifizierte Posten in den öffentlichen Budgets vertröstet, weil die Politiker blind die Alten von den Listen strichen, ohne ihr eigenes potentielles Schicksal im Auge zu haben.
An der Rezeption wurde ich auf die Etage und in die Abteilung geschickt, auf der sich Ingeborg Kløve befand, und ein paar Minuten später war ich auf der Wanderung über einen symbolischen Korridor.
Es roch süßlich nach gelebtem Leben, säuerlich nach vergossener Körperflüssigkeit, feucht von tränenlosem Weinen. Aus einem Zimmer, das niemand je besuchte, riefen gebrochene Stimmen um Hilfe. Eine Männerstimme betete monoton im Fistelton: »Jesus – Jesus – Jesus …« Vom anderen Ende des Korridors kam ein Greis in einer Strickjacke mit Löchern an den Ellenbogen. Auf der Brust trug er alle Medaillen und Ordensbänder, die er seinerzeit bei seinem Stadtteilkorps bekommen hatte. Er marschierte wie ein Soldat und kommandierte sich selbst, stramm wie ein Fahnenträger, aber die Reihen hinter ihm waren unsichtbar, und er war der einzige, der den Takt hielt. »Skansen Batailloon! Gewehr beii Fuß! Heebt an! Reeechts umm! Im Gleichschriiitt mrrrsch!«
Ein weitaus jüngerer Mann, kaum älter als Mitte Sechzig, saß auf einem Stuhl, die Arme auf den Lehnen, als säße er in einer Raumkapsel, die klar zum Abschuß war, aber sein Gesichtsausdruck war leerer als der Raum, in den er hinaus sollte, und die Augen waren tote Trabanten, Meteoriten, die längst kollidiert waren.
Ein paar Stühle weiter saß eine alte Frau, ganz in Schwarz, mit einer großen Schlafpuppe in Rosa auf dem Schoß. Sie sprach leise mit der Puppe, hielt sie hoch und brachte ihr Haar und die kleine Strickjacke in Ordnung, die sie trug, und wenn man sie nicht wiedererkannt hätte, dann wäre man unmöglich darauf gekommen, daß man eine der eifrigsten Akteure in der Studentenbewegung vom Ende der 50er Jahre vor sich hatte, eine der hartnäckigsten Frauenrechtlerinnen.
Ich kam an das Ende des Korridors, wo der Bataillonsjunge exerzierte, der präsenile Sechziger seine sinnlose Raumodyssee fortsetzte, die Frauenrechtlerin mit ihrer Puppe spielte, und wo ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, plötzlich auf mich zugelaufen kam, mich am Jackenaufschlag packte und rief: »Anders! Endlich bist du gekommen! Anders! Anders …«, und dann an meiner Brust in Tränen ausbrach.
Eine energische Pflegerin führte ihn freundlich weg, während sie fragte, zu wem ich wolle.
»Zimmer 312«, sagte sie, als ich den Namen nannte. Danach sah sie mich neugierig an. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie hier schon mal gesehen zu haben. Sind Sie … ein Verwandter?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Jugendfreund ihres – verstorbenen Sohnes. Ich weiß nicht, ob sie Verwandte hat.«
»Nein. Jedenfalls bekommt sie nie Besuch. – Sie dürfen sich nicht erschrecken. Wenn es ein paar Jahre her ist, seit Sie sie zuletzt gesehen haben, dann … Sie ist wohl sehr verändert.« Leise fügte sie hinzu: »Sie kommt nicht mehr aus dem Bett. Sie hat nicht mehr lange Zeit vor sich.«
Ich nickte, und sie führte den Mann, der auf Anders wartete, zurück zu seinem Ausgangspunkt, während ich ins Zimmer 312 ging.
Ingeborg Kløve lag in einem Zweibettzimmer. Die andere Frau im Zimmer hatte Besuch, von einer energischen Matrone in einem braunen Wintermantel, mit frischfrisiertem Haar und einer
Weitere Kostenlose Bücher