Gefallene Engel
die mehr Überlegenheit demonstrierte, als sie sich je erträumen konnte. Sie blinzelte zu mir hoch, mit grünen, feindseligen Augen.
Sie schwenkte unsicher eine Hand. »Wer – hab’ ich …«
»Hei, Anita! Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst? Ich war ein Jugendfreund von Johnny, und ich hab’ den Harpers ein paarmal schleppen geholfen. Und außerdem haben wir in derselben Straße gewohnt, früher.« Ich beugte mich vor und sagte schmunzelnd: » Ich kann mich jedenfalls an dich erinnern.«
Sie lächelte, leicht beschämt, und war sich vollkommen darüber im klaren, daß sie sicher nicht mehr so war, wie ich sie in Erinnerung hatte. »Ich glaube nicht …«, murmelte sie.
»Varg Veum. Aus dem grünen Haus auf der anderen Straßenseite.«
Sie erinnerte sich immer noch nicht an mich, aber das war vielleicht auch kein Wunder. Die Gardinen waren die meiste Zeit vorgezogen gewesen. In der Straße war ich ein zwei Jahre jüngerer Hänfling, und als sie und Johnny nach Paddemyren zogen, kam das für manche einem Kindesraub gleich.
»Hast du ein paar Minuten Zeit?«
Sie lächelte bitter. »Wenn das hier eine Art Kondolenzbesuch sein soll, dann wußtest du vielleicht nicht, daß Johnny und ich geschieden sind, seit – über zehn Jahren?«
Ich nickte. »Doch. Das wußte ich.«
Sie stand da und sah mich an. Die Katze miaute eine Warnung: Hör nicht auf ihn! »Doch, jetzt wo du’s sagst, kommst du mir irgendwie bekannt vor. Das grüne Haus, sagst du? Wo im ersten Stock einer wohnte, der dann Pfarrer geworden ist?«
Ich nickte eifrig. »Genau. Aber wir wohnten im Erdgeschoß.«
Sie trat zur Seite. »Dann komm mal rein. Es ist nicht grad ordentlich, aber …«
Wir kamen in eine kleine Eingangshalle. Die Katze drückte sich an einer Wand entlang, ließ uns aber nicht aus den Augen.
Eine Treppe führte in den ersten Stock, aber sie öffnete eine Tür zur Rechten und sagte: »Wir können kurz hier reingehen. Das ist ein Kellerraum, den wir nicht …«
Wir kamen in einen dunklen, drückenden Kellerraum. An den Wänden hingen ein etwas amateurhaft geknüpfter Teppich, zwei schwarze Negerinnenfiguren aus den 50er Jahren, ein paar alte Fotos von längst verschiedenen Verwandten, vier Teller aus einer Sammlerserie, bemalt in blau und weiß und mit den Jahreszahlen 1967, 1968, 1969 und 1971 versehen, und die Möbel sahen aus, als seien sie an einem Regentag von der Heilsarmee gekauft worden. Die Luft war stickig und es roch nach Schimmel, wie in einer Grabkammer, was der Katze, die uns immer noch folgte, ein ägyptisches Flair verlieh.
Wir setzten uns, ich immer noch im Mantel, sie in einem rotgrün-weiß-gestreiften Kleid. Sie fischte eine Zigarettenpackung und ein Feuerzeug aus der Tasche, zündete mit zittriger Hand eine Zigarette an und hatte die Hand mit der Packung schon fast wieder in der Tasche, als ihr einfiel, daß sie mir vielleicht eine anbieten sollte. Als ich den Kopf schüttelte, sah sie erleichtert aus.
Noch während sie sich auf dem Stuhl zurechtsetzte, sprang die Katze auf ihren Schoß, rollte sich zusammen und blieb liegen, den Blick unverwandt auf mich gerichtet, als wache sie über ihre längst verlorene Ehre.
Sie schielte mich durch die graublaue Rauchwolke von der frisch angezündeten Zigarette an. »Also?«
»War das deine Tochter, die ich getroffen habe – da draußen?«
Sie nickte. »Ja. Das war Sissel. Die jüngste.« Ein Ausdruck plötzlicher Angst breitete sich in ihrem Gesicht aus. »Es geht doch wohl nicht … Sie hat doch wohl nicht … Sie ist ein anständiges Mädchen, wird zum Frühjahr konfirmiert und alles. Du mußt nicht mißverstehen, was ich vorhin gesagt hab’, sie ist nicht … so.«
»Nein, nein, es geht nicht um sie.«
»Oh, Gott sei Dank! Aber du sahst plötzlich so – offiziell aus. Wie einer von diesen Sozialamtkerlen.«
»Es geht um Johnny.«
»Ach … Johnny.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, zu einer Art Resignation. Sie schwenkte die Zigarette und suchte nach den richtigen Worten. »Er ist gestorben wie er – gelebt hat.«
»Ja?«
»Ja.«
»Woran denkst du?«
»Woran ich denke? Du kanntest ihn doch! Immer voll in Fahrt. Konnte den Arsch nicht ruhig halten. Raste wie eine Rakete durchs Leben, und zum Schluß hat’s dann richtig Peng gesagt! Sie hat wohl auch nicht alles ertragen.«
» Sie? «
»Ja? Wieder nicht meine Worte, aber wer sollte besser als ich wissen, wie er … uns behandelt hat.«
»Du denkst an – seine neue
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