Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
Mundpartie, die einen Hecht vor Neid erblassen ließe. Die Frau im Bett sah aus wie eine verfallene Ausgabe desselben Wesens, wenig lebenstüchtig und ohne jegliches Durchsetzungsvermögen.
    Ingeborg Kløve lag auf dem Rücken, den Kopf auf dem Kissen, das weiße Haar in dünnen, unordentlichen Locken um die blaßrote Stirn, einem schmerzvollen Zug um den Mund und einem pulsierenden Leben hinter den geschlossenen Augenlidern. Sie jammerte schwach im Schlaf.
    Ich trat näher. Nein, ich erkannte sie nicht wieder, aber ich konnte mich auch nicht daran erinnern, Harrys Mutter je getroffen zu haben, in Nordnes, damals, als sie um vieles vitaler gewesen sein mußte als jetzt.
    »Wecken Sie sie ruhig!« bellte die Matrone am Nachbarbett. »Sie hat sowieso lange genug geschlafen, und es gibt bald Essen.«
    »Ich kann ein bißchen warten«, sagte ich, zog einen Stuhl ans Bett heran und saß ein paar Minuten lang da und betrachtete Ingeborg Kløve.
    »Ist das womöglich Ihre Mutter?« ertönte es in meinem Rücken.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie sollten sie etwas öfter besuchen«, klang es streng.
    Ich antwortete nicht.
    »Ich weiß selbst, was für ein Besuch das ist, aber ich bin hier draußen, sooft ich kann, ja, man muß ja bedenken, sie könnten ja auch zu Hause liegen, nicht?«
    Ich wandte mich um und sah sie an. Die Mutter lag mit offenen Augen da und hörte zu, ohne etwas zu sagen. Sie fuhr unbeirrt fort: »Ja, jetzt bin ich so gut wie jeden Nachmittag hier gewesen, mit dem Bus hin und zurück, und da ist kein Verständnis, keine Entlastung von den anderen, was sagen Sie dazu?«
    Ich sagte: »Und wo die Busfahrscheine doch so teuer geworden sind, was? Ist das nicht ärgerlich?«
    »Doch, ich …« Sie biß sich auf die Zunge, sah mich beleidigt an und drehte sich abrupt und demonstrativ zur Seite.
    Ich blinzelte ihrer Mutter zu, die nicht zu reagieren schien. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Ingeborg Kløve zu.
    Sie hatte die Augen geöffnet. »Hat jemand was gesagt?« Die Stimme klang schwach, aber bestimmt.
    Ich beugte mich in ihren Gesichtskreis vor. »Ja, Frau Kløve. Das war ich. Varg Veum. Ich bin ein Jugendfreund von Ihrem Sohn, Harry.« Ich hatte mittlerweile ganz schön viele Jugendfreunde.
    »Harry? Bist du das?«
    »Nein«, sagte ich. »Ein Freund von Harry. Varg heiße ich.«
    »Wie heißen Sie, sagen Sie?«
    Ich sah zur Seite. Hinter mir schnaubte es verächtlich.
    Auf ihrem Nachttisch stand ein halbvolles Glas mit Wasser. Ich beugte mich noch ein wenig näher. »Möchtest du ein bißchen Wasser?«
    Plötzlich war sie ganz klar. »Ja … danke.«
    Ich hielt das Glas an ihre schmalen, spröden Lippen. Ihre eine Hand ruhte leicht wie eine alte Vogelkralle, die man auf dem Dachboden findet, auf meinem Handrücken, und sie trank, in kleinen Schlückchen, eben wie ein Vogel.
    »Er ist tot, Harry«, sagte sie dann.
    Ich nickte. »Ja, Frau Kløve. Das ist er.« Ich versuchte, soviel wie möglich Anteilnahme in meine Stimme zu legen, als sei es gerade erst geschehen.
    »Er bekam ein Engelbild mit der Post, und dann starb er.«
    Ich sah sie an. »Was sagen Sie? Was bekam er?«
    Sie starrte vor sich hin. »Ein Engelbild. Und dann starb er.«
    »Ein Engelbild?«
    Sie nickte angestrengt.
    »Was für ein – Engelbild?«
    »Ein Engelbild«, sagte sie wieder, als gäbe es nur eines auf der Welt.
    »Er bekam ein Engelbild«, wiederholte ich, »und dann starb er?«
    Sie nickte. »Schwarze Kreuze bedeuten Tod. Harry ist tot. Das stand in der Zeitung. Schwarze Kreuze.«
    »Sie meinen die Todesanzeige?«
    Sie lächelte, froh darüber, daß ich verstand. »Die Todesanzeige. Er ist jetzt tot. Harry.«
    »Völlig verdreht«, ertönte es halblaut hinter mir. »So werden sie alle.«
    Ich drehte mich abrupt herum. »Und was ist mit solchen wie dir? Die völlig verdreht sind und immer noch frei rumlaufen?«
    Sie schnappte nach Luft und sah noch mehr wie ein Hecht aus.
    Ich wandte mich wieder Ingeborg Kløve zu. Ihre Augen schlossen sich wieder. Aber in den schmalen Spalten schimmerte es noch immer von Leben. Sie sang leise vor sich hin: » Im Rosenwege – in Nummer achtzehn – ist meine kleine Braut zu Haus. – Kaum ein Kleid hat sie – um auszugehn … « - Der Rest versank in ersterbendem Summen, das ungefähr in dem Moment verebbte, als sich die Augen ganz schlossen.
    Etwas später atmete sie regelmäßig, in tiefem Schlaf.
    Auf dem Korridor klirrten immer lauter Eßgeschirr und Metallbehälter.
    Ich sah

Weitere Kostenlose Bücher