Gefallene Engel
traurig auf Ingeborg Kløve. Einmal, am Anfang des Jahrhunderts, war sie ein kleines Mädchen gewesen, daß übers Kopfsteinpflaster lief mit Rüschenkragen am Kleid, mit tanzenden Zöpfen auf dem Rücken und munteren Schritten im Treppenhaus, auf dem Weg nach Hause, mit Muskeln, die noch wuchsen, und Fett, was sich erst noch entwickeln sollte. – Einmal, irgendwann zwischen den großen Kriegen, eine Frau in voller Blüte, mit schwellender Brust, glänzendem Geschlecht, zungenfreudigen Küssen in hingebungsvoller Umarmung. – Später trug sie ihren Sohn mit geradem Rücken, zuerst im Bauch, dann an der Brust und dann auf den Armen, bis er ihr schließlich zu schwer wurde, heran- und über sie hinauswuchs, und sie mußte ihren Arm unter seinen schieben, um überhaupt Kontakt zu bekommen, wenn sie ihren Sonntagsspaziergang auf dem Fjellvei machten oder wo sie auch immer gegangen sein mochten, Harry Kløve und seine Mutter.
Junges Mädchen und Greisin, Kleinkind und reife Frau, Tochter und Mutter, all das war sie gewesen, um schließlich allein vor dem Tor zu stehen, ohne Eltern, mit einem Mann, der zu früh starb, und nicht einmal von ihrem Sohn begleitet. Mit ihr starb die kleine Familie aus. Im Rosenwege war die kleine Braut längst vor die Tür gesetzt worden, die Nähmaschine auf dem Schrotthaufen gelandet, und an Ingeborg Kløve erinnerte sich niemand mehr.
Ich stand auf und ging, ohne der Hechtdame, die immer mit dem Bus fuhr, hin und zurück, jeden Nachmittag, das ganze Jahr hindurch, auf Wiedersehen zu sagen. Ich schlich den Korridor entlang, weg vom Bataillonsjungen, weg von den leeren Augen, verfolgt von den kläglichen Rufen, die nicht mal in dem ständig gleichen, monotonen: »Jesus – Jesus – Jesus …« einen Trost fanden. So lassen wir sie hinter uns, die Dinge, die wir aufgebraucht haben. In solchen Kammern verstecken wir die Spiele, denen wir entwachsen sind, die Leben, die unsere waren, bevor wir erwachsen genug wurden, um es zu begreifen, die Schicksale, die uns selbst in ein paar Jahren erwarteten. Alle, wie wir da sind, wenden wir dem Frühling den Rücken und schreiten auf den Herbst zu. Wir wissen nur nicht, wie schnell er plötzlich da ist.
29
An der Rezeption durfte ich ein Telefonbuch ausleihen, blätterte zum Gebiet Øygården und begann zu suchen. Es gab dort draußen ganz richtig eine Halldis Heggøy, mit Telefon und Adresse.
Ich sah auf die Uhr. Ich hatte keine Lust, anzurufen und meine Ankunft anzukündigen. Andererseits würde eine vergebliche Fahrt nach Øygården den anderen Besuch, den ich mir vorgenommen hatte, verzögern.
Ich verschob die Fahrt nach Øygården um ein paar Stunden, sauste durch den Lovstakktunnel zurück in Richtung Stadt, bog aber bei der Puddefjordbrücke ab und fuhr über die Carl Kows gate und den Kringsjåvei weiter nach Laksevåg. Ich parkte vor dem Haus, in dem ich Bente Solheim vor ein paar Tagen und vor einem plötzlichen Todesfall getroffen hatte. Bevor ich aus dem Wagen stieg, sah ich mich diskret um. Keine Spanner tief in Autositze versunken, mit der Morgenzeitung vor dem Gesicht. Keine schnellen Reflexe von camouflierten Fernglaslinsen. Keine auffälligen Fußgänger beim Vormittagsspaziergang durch das Viertel. – Ich sah zum Haus hinauf. – Und keine uniformierte Wache davor.
Ich stieg aus dem Wagen, ging zum Haus hinauf, um die Ecke zum Haupteingang und ins Treppenhaus.
Ich stieg in den ersten Stock und klingelte an der Tür mit den matten Drahtgitterscheiben.
Diesmal waren dahinter keine Kinderstimmen zu hören, und Bente Solheim öffnete bald, fast als hätte sie mich erwartet.
Aber sie schien mich nicht wiederzuerkennen. Ihr Gesicht war – wenn möglich – noch hagerer als das letzte Mal, als ich sie sah. Sie war ungeschminkt, und der große blaue Fleck war beträchtlich verblaßt. Sie trug graue Jeans, einen grauen Pulli und rote Schuhe, und die Augen waren so gesättigt von Medikamenten wie bei einem Olympiasieger im Gewichtheben.
»Ich bin Veum«, sagte ich vorsichtig. »Ich war am Samstag schon mal hier. Kann ich reinkommen?«
Sie trat stumm zur Seite. Dann führte sie mich in die Wohnung hinein. Sie bewegte sich mit kleinen, trippelnden Schritten, wie eine Ballettänzerin zwischen zerbrechlichen Kulissen.
Das Wohnzimmer war unpersönlich und nichtssagend, mit hellbraunem Parkettfußboden, dunkelbrauner Holzverkleidung an den Wänden, fusseligen Teppichen in Beige und rotbraunen Ledermöbeln. An den Wänden hingen billige
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