Gefallene Engel
jemand anderes so einen Brief bekommen?«
»Ja, aber – das erklär’ ich dir später. – Und, Jakob. Lach nicht, aber sei vorsichtig, immer wenn du rausgehst, oder wo du sonst hingehst. Du weißt, was mit Johnny passiert ist.«
»Jaja – das war Johnny und nicht ich. Was sollte – wer sollte ein Interesse daran haben, mich umzubringen?«
»Es könnte eine Verbindung geben, Jakob. Wir reden darüber. Ich muß weiter.«
»Warte, Varg! Was meinst du – welche Verbindung sollte das sein?«
Ich dachte nach. Dann ließ ich die Axt fallen. »Das, was 1975 passiert ist, Jakob. Mit den Harpers. – Denk drüber nach, bis wir uns sehen. Tschüß!«
Ich legte auf, bevor er protestieren konnte.
Ich schwitzte auf dem Rücken, fror aber an den Beinen, wo die Dezemberluft kalt durch das silberne Gitterwerk hereinzog.
Ich verließ die Telefonzelle und ging zurück zum Wagen.
Ich holte eine Karte aus der Ablage an der Innenseite der Tür. Ich schlug Øygården auf, um ganz sicher zu gehen. Aber es wäre nicht nötig gewesen. Ich brauchte nur dem Geruch des Meeres zu folgen.
Es war die Domäne der Brücken.
Stück für Stück war der gelenkige, knorrige Finger von einem Archipel, bestehend aus kleinen und großen Inseln, miteinander verbunden. Die letzte Brücke, über den Rognesund, war erst vor acht Monaten geöffnet worden, im April.
Jetzt konnte man der asphaltierten Straße direkt nach Norden folgen, von Sotra bis Hellesøy. Wenn du dort auf die höchsten Felshügel stiegst, konntest du bei jedem Wetter bis Hernar sehen, und bei klarer Sicht bis Fedje und zum Hellesøy-Leuchtturm. An brütenden Sommertagen oder an Wintertagen, scharf wie neugeschliffene Messer, konnte man bis ins Ytre Sogn und zum Fernsehmast von Gulen sehen.
Mitten auf der Sotrabrücke spürte ich die ersten Windstöße, die das Auto erfaßten, sich der Front widersetzten, und sie zwangen mich dazu, mehr Gas zu geben, um das Tempo zu halten.
Links, in Richtung Süden, lagen die steilen Fjellhänge auf der Südseite von Sotra. Rechts lag das Askøyland wie ein Tintenfleck in der grauen, leinwandfarbenen Dezembersee. Draußen vor Askuy zeigte Øgården zum Nordpol und dem leeren Raum dahinter.
In vieler Hinsicht war dies das wildeste Vestland. Hier hatte man das Gefühl, sich am norwegischen Grundgestein den Bauch aufzureiben, das hart und widerwillig passierenden Gletschern getrotzt hatte, den Nackenbissen der Herbststürme und dem ewigen Scheuern des Meeres. Die Landschaft hatte etwas Glattgescheuertes und Graues, wie die Glatzen von uralten Zwergen, die nur eben die Köpfe aus dem Wasser strecken und düster das Leben betrachten. An wenigen Orten war man so nackt wie auf diesen Inseln. Den Launen des Meeres preisgegeben, auf ein paar der umstürmtesten Außenposten des Königreiches.
Ich bog bei Koltveit ab, fuhr langsam durch die 50-Zone, eine grüne Oase von einem Tal, fruchtbar wie eine biblische Offenbarung, eine Antwort auf alle Gebete aus dem Bethaus.
Aber auch dieser Distrikt befand sich in einer Übergangsphase. Der Fischfang war so gut wie ausgestorben, Landwirtschaft war etwas, mit dem man sich in der Freizeit beschäftigte, die neuen Brücken hatten eine Reihe von Arbeitsplätzen aufs Festland ziehen lassen, und die Ölindustrie hatte längst ihren Einzug in die Region gehalten.
Ich passierte die Ölanlage in Ågotnes und das Hotel im Texas-Stil dort draußen. Danach folgte ich der neuen Straße nach Norden, die in so geraden Linien wie möglich in die Landschaft gesprengt war. Von Sotra kam man auf das dünnbesiedelte Toftoy, das früher das fehlende Bindeglied war, ohne Brückenverbindung in irgendeine Richtung. Im Osten erstreckte sich das vestländische Fjellmassiv wie ein nationalromantisches Webbild von ungeahnten Dimensionen. Die Berge um Bergen herum zeigten sich von neuen Seiten, ein blauer Bergrücken nach dem nächsten erstreckte sich ins Land hinein, und wie eine kreideweiße Bettdecke ruhte der Folgefonn-Gletscher majestätisch über dem Ganzen.
Die Brücke über den Rognesund war eine der eigenartigsten des Landes, mit der Schulter im Westen erhoben, zum Schutz gegen den Wind, ein Ingenieurtrick, der ihr eine Kurve verschaffte wie ein Walzer mit einem Mädchen, das eigentlich mit einem anderen tanzen wollte. Dann war man drüben auf der nächsten Insel, und es war an der Zeit, sich zu orientieren.
Noch einmal tauchte eine fruchtbare Öffnung auf, eine umständlich angelegte Allee und ein kleiner Ort mit
Weitere Kostenlose Bücher