Gefallene Engel
Shuttle gestohlen haben, hatte nicht viel Verwendung dafür.«
»Nein, dort hat man bereits alle Flüchtlinge erschossen.« Ich zeigte auf die Kinder, die nun aufgeregt über ihre Geschenke diskutierten. »Die Miliz des Lagers wird sie ihnen wahrscheinlich abnehmen, sobald wir weg sind.«
Schneider zuckte die Achseln. »Ich weiß. Aber nicht die Schokolade und die Schmerzmittel. Was wollen Sie jetzt tun?«
Es war eine sinnvolle Frage, auf die es eine ganze Menge sinnloser Antworten gab. Ich blickte zu der Gruppe Soldaten des Lagers hinüber und dachte über ein paar der blutigeren Möglichkeiten nach.
»Da kommt sie«, sagte Schneider. Ich folgte seinem Blick und sah den Sergeant, zwei weitere Uniformen und dazwischen eine schlanke Gestalt mit gefesselten Händen. Ich kniff die Augen zusammen, damit die Sonne mich nicht blendete, und aktivierte den Vergrößerungsmodus meiner neurachemisch verstärkten Augen.
Tanya Wardani musste während ihrer Zeit als Archäologin wesentlich besser ausgesehen haben. Das langgliedrige Skelett war auf mehr Körpermasse ausgelegt, und sie hatte bestimmt mehr aus ihrem dunklen Haar gemacht, es zum Beispiel gewaschen und hochgesteckt. Genauso unwahrscheinlich war es, dass sie schon damals die verblassenden blauen Flecken unter den Augen gehabt hatte, und sie hätte bei unserem Anblick vielleicht sogar ein wenig gelächelt, wenigstens ein Zucken des langen, schiefen Mundes.
Sie blieb schwankend stehen und musste von einem Soldaten festgehalten werden. Neben mir erhob sich Schneider, wollte ihr entgegengehen, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück.
»Tanya Wardani«, sagte der Sergeant steif und zog ein Stück weißes Plastikband hervor, das mit Strichcodes bedruckt war, und einen Scanner. »Für die Freilassung benötige ich Ihre Identifikation.«
Ich legte einen Finger auf die Codierung an meiner Schläfe und wartete ruhig ab, während der rote Laserstrahl über mein Gesicht strich. Der Sergeant suchte den Streifen auf dem Plastikband heraus, der Wardanis Code enthielt, und richtete den Scanner darauf. Schneider trat vor und packte die Frau am Arm. Er zerrte sie zum Shuttle und gab sich den Anschein ruppigen Desinteresses. Wardani spielte mit, ohne dass ihrem bleichen Gesicht irgendeine Regung anzusehen war. Als ich den beiden folgen wollte, rief mich der Sergeant zurück, mit einer Stimme, die plötzlich nicht mehr steif, sondern spröde klang.
»Lieutenant.«
»Ja, was gibt es noch?« Ich legte eine Spur Ungeduld in meine Stimme.
»Wird sie zurückkommen?«
Ich drehte mich in der Einstiegsluke um und hob genauso distinguiert eine Augenbraue, wie es Schneider wenige Minuten zuvor getan hatte. Er überschritt seine Kompetenzen, und er wusste es.
»Nein, Sergeant«, sagte ich, als würde ich mit einem kleinen Kind reden. »Sie kommt nicht mehr zurück. Sie wird zum Verhör gebracht. Vergessen Sie sie am besten.«
Ich schloss die Luke.
Doch als Schneider das Shuttle startete, sah ich durch ein Fenster, wie er immer noch da unten stand, im Sturm, den unsere Triebwerke entfesselten.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, sein Gesicht vor dem Staub zu schützen.
4
Wir entfernten uns in westlicher Richtung vom Lager und flogen auf dem Gravfeld über eine Mischung aus Wüstensträuchern und Flecken dunklerer Vegetation, wo es der Flora des Planeten gelungen war, Wasseradern nahe an der Oberfläche anzuzapfen. Etwa zwanzig Minuten später erreichten wir die Küste und steuerten auf das Meer hinaus, das nach Angaben des Wedge-Nachrichtendienstes mit intelligenten Minen der Kempisten verseucht war. Schneider flog mit geringer Geschwindigkeit und blieb die ganze Zeit im Unterschallbereich. Das erleichterte die Ortung.
Ich verbrachte den ersten Abschnitt des Fluges in der Hauptkabine und war vorgeblich damit beschäftigt, einen aktuellen Lagebericht durchzugehen, den das Shuttle aus einem von Carreras Kommandosatelliten heruntergeladen hatte, während ich in Wirklichkeit mit einem Envoy-Auge Tanya Wardani beobachtete. Sie saß zusammengesunken auf dem Platz, der am weitesten von der Schleuse entfernt war und nahe an den kleinen Fenstern auf der rechten Seite, die Stirn gegen das Glas gelehnt. Ihre Augen waren offen, aber es war schwer zu sagen, ob sie tatsächlich nach draußen schaute. Ich versuchte gar nicht erst, sie anzusprechen – ich hatte dieselbe Maske im vergangen Jahr schon auf tausend anderen Gesichtern gesehen, und ich wusste, dass sie erst dann
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