Gefallene Sonnen
brachte das Boot über eine tiefe Stelle, und dort spielten wir ein Spiel. Wir aktivierten Lichtstäbe, warfen sie an verschiedenen Stellen des Bootes über Bord und beobachteten, wie sie immer tiefer sanken, bis etwas sie fraß.«
»Sie fraß?«, wiederholte EA.
»Selbst unter der gefrorenen Kruste lebten einige Geschöpfe im Wasser, vor allem große, primitive Nematoden: weiche, dicke Würmer, länger als mein Bein. Das Licht der Stäbe lockte sie wie ein Köder an. Bei unserem Spiel ging es darum, wessen Lichtstab als letzter gefressen wurde. An jenem Tag gewann ich.« Tasias Augen funkelten.
EA verarbeitete die Informationen so, als versuchte er, sich an den Ausflug zu erinnern. »Waren die Würmer gefährlich?«
Tasia freute sich darüber, dass der kleine Roboter wieder interaktiv wurde.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals jemanden belästigt haben. Aber ich weiß, dass du dich auf dem Boot nicht sehr wohl gefühlt hast. Du warst schon einmal ins tiefe Wasser gefallen, und wir hatten große Mühe, dich zu bergen.«
»Die Geschichte hast du mir bereits erzählt.«
»Nachdem die Nematoden unsere Lichtstäbe gefressen hatten und das Spiel vorbei war, wandte sich Ross an mich und sagte: ›Jess und ich müssen uns in diesen Tagen um wichtige Dinge kümmern. Du bist unsere kleine Schwester, aber das bedeutet nicht, dass du jeden Tag mit Spiel verbringen kannst.‹
Und Jess sagte: ›Es wird Zeit, dass auch du Verantwortung übernimmst, Tasia. Eines Tages musst du dich vielleicht um den ganzen Clan kümmern. Aber du sollst mit etwas Kleinerem beginnen, mit Verantwortung für eine Sache. Für eine sehr wichtige Sache. Mal sehen, wie du damit zurechtkommst.‹« Tasia beugte sich zum Kompi vor. »Weißt du, worum es dabei ging, EA?«
»Das hast du mir noch nicht gesagt.«
»Meine Brüder schenkten mir dich an jenem Tag, EA. Erst hast du Ross gehört, dann Jess, und dann glaubten meine Brüder, dass du besser zu mir passt.« Tränen brannten in Tasias Augen, und sie war froh, dass der Kompi ihren plötzlichen Stimmungswandel nicht verstand. »Und sie hatten Recht. Wir brauchen uns noch immer gegenseitig.«
»Erzählst du mir, was mit Jess und Ross geschehen ist?«, fragte EA. »Wo sind sie jetzt?«
Ein Klumpen schien sich in Tasias Hals zu bilden, und sie schluckte. »Ein anderes Mal, EA. Ein anderes Mal.«
Seit Jahren stellte sie sich in Albträumen die letzten Momente ihres Bruders Ross in den hohen Wolken von Golgen vor, während die Himmelsmine beim Angriff der Hydroger um ihn herum zerbrach. Ross und Tasias Vater waren kurz hintereinander gestorben, und dadurch blieb ihr nur Jess. Aber abgesehen von einer kurzen Mitteilung, die EA empfangen hatte und die vom Tod ihres Vaters berichtete, war Tasia ohne Nachricht von Jess, seit sie Dienst in der TVF leistete.
Sie wusste nicht, wo sich ihr Bruder jetzt befand. Und selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, nach ihm zu suchen: Sie hätte nicht einmal gewusst, wo sie nach ihm Ausschau halten sollte.
Was dachten die anderen Roamer von ihr? Ihre Entscheidung, zum Militär der Hanse zu gehen, hatte bei den Clans bestimmt zu einem Skandal geführt. Ihr Verhalten war damals verständlich gewesen, als die Hydroger Himmelsminen der Roamer zerstört hatten. Aber jetzt griffen die Tiwis Stützpunkte der Clans an, und deshalb musste Tasia bei ihrem Volk als Verräterin gelten. Hatte man sie ganz abgeschrieben?
Schlimmer noch: Hatte man sie gar vergessen?
Einige Decks weiter unten waren die Passagierquartiere voller gefangener Roamer, die Tasia nach Llaro brachte. Sie konnte jederzeit mit ihnen reden… wenn sie den Mut dazu aufbrachte.
19 CESCA PERONI
Als Cesca auf der dunklen, gefrorenen Oberfläche von Jonah 12 stand, fühlte sie sich kälter und leerer als jemals zuvor. Zwei Tage waren seit dem Tod der früheren Sprecherin vergangen, und es gab keinen Grund mehr, noch länger zu warten.
Sie hatte gehofft, dass eins der Kurierschiffe zurückkehrte, aber dieser eisige Planetoid war selbst für eine Roamer-Basis abgelegen, und die Zeit genügte einfach nicht. Es würden auch keine anderen Clan-Oberhäupter kommen, um der Toten die letzte Ehre zu erweisen. Die versprengten Geächteten wussten nicht einmal, dass Jhy Okiah gestorben war, und es standen Cesca keine Langstreckenschiffe mehr zur Verfügung, um die Kunde ins All zu tragen.
Jetzt musste sie allein als Sprecherin der Clans zurechtkommen. Die alte Jhy Okiah hatte lange versucht, sie
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