Gefangen im Terror (German Edition)
drückte, fühlte er wie Blut durch seine Finger rann. Dann sackte er tonlos zusammen. Er verlor das Bewusstsein. Unbemerkt blieb er im Gebüsch am Straßenrand liegen.
Die Soldaten und Milizen waren inzwischen mit ihren Fahrzeugen bis auf den Schulhof vorgerückt. Die Schule brannte, aus dem Dach der Turnhalle schlugen hohe Flammen. Für die meisten Terroristen gab es kein Entkommen, viele von ihnen waren tot. Ein paar wenige wurden lebendig gefangengenommen. Wie viele entkommen waren, konnte im Moment nicht festgestellt werden. Die Bevölkerung von Beslan, die sich am Rande des abgesperrten Gebietes aufgehalten hatte, rannte kreuz und quer über den Schulhof und in die Schule hinein. Jeder suchte nach Angehörigen und Überlebenden. Man trug die Toten zusammen und die Verletzten wurden nach und nach mit Krankenwagen in die umliegenden Hospitäler gebracht. Chamil lag so versteckt, dass er als einer der letzten gefunden wurde. Seine Wunde blutete stark, als man ihn auf eine Trage legte. Er war noch immer bewusstlos.
Viele Mütter und Väter aus Beslan waren unterwegs, um ihre Kinder zu suchen. Wer sein Kind nicht tot auffand, war froh noch die Hoffnung zu haben, dass es in einem der Krankenhäuser untergebracht lag. Doch nicht wenige der Kinder starben in den Krankenhäusern an ihren schweren Verletzungen und viele waren für den Rest ihres Lebens verkrüppelt. Hubschrauber hatten die Schwerverletzten in Kliniken nach Russland geflogen. Vielen konnte dort geholfen werden, doch die Angehörigen irrten suchend herum. Verzweifelte Rufe von Müttern und Vätern waren in ganz Beslan zu hören. Sie riefen die Namen ihrer Kinder. Doch niemand konnte ihnen helfen. Sie waren in dem Chaos nicht verständigt worden.
Ismaels Mutter suchte zusammen mit der ganzen Familie nach ihrem Sohn. Im Leichenschauhaus waren von den Hilfskräften alle Toten in zwei Reihen aufgebahrt worden. Es war nicht genug Platz. Die Reihen vor dem Leichenhaus wurden immer länger, sie waren nur notdürftig abgedeckt. Sie gingen von einem Kind zum anderen. Ismael lag am Ende der vorderen Reihe, ganz außen. Sein Gesicht war durch einen Einschuss nicht mehr zu erkennen, aber seine Mutter sah schon von weitem sein hochgewölbtes Brustbein. Sie wusste sofort, dass das Ismael war. Als Kleinkind war er rachitisch gewesen und diese Verformung hatte sich nicht mehr verbessert. Die Mutter und Schwestern standen wie versteinert vor der Leiche des kleinen Jungen. Er war der Stolz der ganzen Familie gewesen. Die vier Schwestern hatten ihren Bruder verwöhnt und verhätschelt. Sie weinten und stützten ihre Mutter, die auf die Knie niedergefallen war. Der Vater blieb abseits stehen, er konnte seinen toten Sohn nicht ansehen, er würde nie über diesen Verlust hinwegkommen.
Die vier Schwestern, die auch alle in der Schule als Geiseln waren, hatten Glück gehabt. Sie waren fast unbeschadet davon gekommen. Sie waren in der Turnhalle in einer Ecke dicht beisammen gewesen und hatten den Koran gebetet. Die jüngste war nur einmal aufgestanden, um zur Toilette zu gehen und dabei hatte sie einer der Terroristen in die Hand geschossen. Die Schwestern hatten sie verbunden und versucht, sie zu beruhigen. Wie durch ein Wunder hatten sie überlebt.
Am Ausgang der Halle wurde den Frauen gesagt, sie sollten eine Folie und Decke besorgen, dann könnten sie den kleinen Leichnam bis zur Bestattung mitnehmen. Die Mutter verfluchte sich, dass sie ihr Kind nicht den Schwestern überlassen hatte. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass Fatma eine bessere Begleitung für ihren Liebling war. Jetzt war er tot. Und wo war Fatma? War sie noch am Leben?
Obwohl es bereits September war, brannte die Sonne unbarmherzig herunter. Viele der Toten waren schon zu Beginn der Geiselnahme gestorben. Ihre Leiber begannen bereits in Verwesung überzugehen. Das Leichenschauhaus war zu klein. Es fehlte an Material, die Toten abzudecken und der Leichengeruch war kaum auszuhalten.
Andere Angehörige hatten ihre Toten mit Kleinlastern abtransportiert. Sie schafften sie in die kühlen Häuser, damit sie nicht weiter in der Hitze verwesten. Es waren zu viele Tote. Niemand hatte mit einer so großen Anzahl erschossener und verletzter Geiseln gerechnet. Die Helfer waren hoffnungslos überfordert und niemand koordinierte die Hilfsmaßnahmen. Viele Menschen verharrten in ihrer Trauer und waren unfähig, zu helfen.
Die toten Terroristen wurden hinter der Schule entlang der Mauer aufgereiht. Es waren
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