Gefangen im Terror (German Edition)
Präsidenten selbst vor Ort erscheinen würde, und die Forderungen der Geiselnehmer erfüllen würde. Sie hatten lange über die Forderungen diskutiert. Chamil wusste, dass sie eigentlich unerfüllbar waren. Sie forderten die Befreiung vieler Terroristen und Gewaltverbrecher, die in russischen Gefängnissen saßen und eine Anerkennung Tschetscheniens durch die GUS. Die Forderungen waren auf einem Papier zusammengestellt, das Mehmet bei sich trug.
Doch darüber konnte er nichts sagen. Er tat so, als ob er Hoffnung hätte, dass die Terroristen einer Freilassung der Geißeln bald zustimmen würden. Sie gingen nach unten, um den Fernseher anzuschalten, vielleicht gab es neue Nachrichten. Doch die Berichterstattung beschränkte sich auf die Beschreibung der Schule und die Anzahl der Geiseln. Es war immer noch von 300 Geiseln die Rede.
Fatmas Vater zog hörbar die Luft ein. Wie immer wenn es um offizielle Nachrichten ging, wurde man in Dagestan belogen. Auch Chamil wusste, dass das nicht stimmte.
Die Berichterstattung im Fernsehen war dürftig. Ein paar Bilder des Pausenhofes wurden eingeblendet, man sah Schützenpanzer und Milizen. Angehörige kamen nicht zu Wort. Die Politiker sprachen von Hoffnung auf Verhandlungserfolge. Ein Mann, der den Geiselnehmern bekannt war, fungierte als Vermittler zwischen Regierung und Geiselnehmer. Er wurde nicht gezeigt, auch sein Name blieb im Dunkeln.
Fatmas Vater schaltete das Gerät wieder ab.
Chamil ging nicht davon aus, dass die Verhandlungen mit der Regierung erfolgreich sein würden. Sein Bruder Mehmet, der einer der führenden Geiselnehmer war, hatte ihm vorher schon erklärt, dass nur eine große Anzahl von Geiseln die Forderungen, die sie stellten, an Moskau durchsetzen könnten. Mehmet war sich seiner Sache sehr sicher gewesen. Mehmet war für ein ganzes Jahr in einem der Ausbildungslager in Afghanistan gewesen und war von dort als selbstbewusster Kämpfer zurückgekommen. Seine Ausbildung zum Automechaniker hatte er vorher abgebrochen, als er über alle Kenntnisse in der Technik des praktischen Gebrauchs von Autoteilen verfügte. Chamils Vater war besonders stolz auf seinen jüngeren Sohn gewesen. Er war in der Gruppe der Terroristen sofort zu einem der Führer aufgerückt, da er es auch verstand mit der Waffe zu beeindrucken. Bei allen Schießübungen hatte er die meisten Treffer zu verzeichnen.
Chamil war verzweifelt, er wusste nicht, was er Fatmas Eltern sagen sollte. Dass sie in diese aussichtslose Situation geraten war, war allein seine Schuld. Er trug die Verantwortung, wenn sie starb. Er konnte den Eltern nicht die Wahrheit sagen. Stattdessen versuchte er, sie zu beruhigen mit den Worten: „Eure Tochter ist nicht ernsthaft in Gefahr, sie ist klug, sie wird vorsichtig sein und vielleicht findet sie eine Möglichkeit, frei gelassen zu werden. Der Anschlag gilt dem System und wenn die Verhandlungen jetzt in Gang kommen, wird das Drama bald zu Ende sein.“
Chamil verabschiedete sich, um wieder auf seinen Beobachtungsposten zurückzukehren. Er verbrachte die Nacht und den folgenden Tag dort. Immer wieder gab es kleinere Explosionen in der Schule. Chamil zitterte dann wieder um Fatmas Leben und wünschte, dass er wenigstens dabei gewesen wäre. Vielleicht wäre es ihm gelungen, sie frei zulassen oder wenigstens zu beschützen.
Fatma ahnte nichts davon, dass er mit die Verantwortung für ihre Angst und Verzweiflung trug. Er fürchtete, dass sie ihn nicht mehr lieben würde, wenn sie je erfahren würde, was er ihr angetan hatte.
Fatmas Familie würde ihn hassen und denunzieren. Er war jetzt, wie alle am
Überfall beteiligten, ein Terrorist und damit gesucht und dem Tode geweiht. Chamil fühlte sich hilflos, denn er war ganz auf sich allein gestellt. Es kam nur darauf an, Fatma lebend aus der Gefangenschaft zu befreien und mit ihr zu verschwinden. Er hoffte, dass Fatma nie die Wahrheit über ihn und seine offizielle Beteiligung an der Geiselnahme erfahren würde. Dieses doppelte Spiel würde er ein Leben lang weiterspielen müssen.
Auch zu Beginn des dritten Tages blieb Chamil auf seinem Beobachtungsposten. Jetzt hatte Chamil kaum noch Hoffnung, dass die Geiseln freikommen würden. Die Verhandlungen steckten fest. Die Fronten hatten sich verhärtet. Trotzdem versuchte er, Fatmas Eltern nicht noch mehr Angst zu machen, als sie bereits um ihre Tochter hatten. Fatmas Vater schaute ihn zweifelnd an, aber er wollte ihm glauben und er antwortete: „Wir können nur warten
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