Gefangen im Terror (German Edition)
er bleibt vorerst bei euch, hier ist er nicht sicher. Sie haben schon nach ihm gesucht.“ Mein Vater wechselte mit mir nur einen Blick. Er fragte nicht nach, warum sie ihn suchten. Wir wussten, dass in Grosny niemand sicher war. In dieser Stadt herrschte noch immer die Willkür. Die tschetschenische Miliz war unberechenbar. Angst regierte die Bevölkerung. Niemand wusste, wann dieser Schrecken ein Ende nehmen würde. Täglich verschwanden Menschen spurlos. Ich war ganz froh, dass Chamils Mutter nicht darauf bestand, ihren Sohn sofort wieder zu bekommen.
Wir sagten ihr, dass sie ihn jederzeit besuchen könnte. Doch sie schüttelte nur resigniert den Kopf und sagte: „Wenn er bei euch bleiben kann, wird er vielleicht überleben.“ Dann wandte sie sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. Die beiden Töchter drückten sie an sich. Sie hatte ja Mehmet verloren. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
Wir erhoben uns und verabschiedeten uns. Als wir im Auto saßen, sagte mein Vater: „So bald Chamil gesund ist, werden wir die Hochzeit abhalten.“
An dieser Äußerung erkannte ich, dass er nicht damit rechnete, dass Chamil je nach Grosny zurückkehren würde. Ich fragte meinen Vater: „Warum glaubst du, suchen sie ihn?“ Er sah mich kurz an und antwortete: „Mehmet war ein Terrorist. Sie waren Brüder.“ Natürlich hatte mein Vater Recht, wenn er es auch nicht aussprach, Chamil konnte über Vieles Bescheid wissen. Er gehörte vielleicht zu den engeren Mitwissern. Als Terroristen konnte ich mir Chamil beim besten Willen nicht vorstellen. Mein Vater machte ein verbissenes Gesicht, als er sich wieder ans Steuer setzte. Ich hätte ihn gerne gefragt, was er von Chamils Familie hielt, doch ich wagte nicht, ihn noch mal anzusprechen. In meinem Kopf rumorte es. Meine Mutter saß regungslos auf dem Beifahrersitz und blickte starr geradeaus. Sie hatte auch zu Chamils Mutter kein Wort gesagt. Das armselige Häuschen hatte ihr wohl die letzten Illusionen geraubt.
Aber warum war Chamil so schwer verletzt? Er hatte mir genau den Hergang der Verwundung geschildert. Sollte ich daran plötzlich zweifeln? Was sollte ich glauben? War er vielleicht auch in der Schule gewesen und ich hatte ihn nicht gesehen? Eines war sicher, mein Vater würde mich auch mit einem Terroristen verheiraten. Ihm ging es um die Ehre der Familie. Jetzt nachdem Chamil in unserem Hause untergebracht war, gab es kein Zurück mehr.
Ich war für ein Mädchen zu alt, um noch einen Mann zu bekommen. Mein Vater hatte mein Studium unterstützt, weil er wusste, ich würde die Frau Ruslans werden und damit wäre für ihn alles in Ordnung gewesen. Obwohl er stolz war, als ich als Lehrerin in der Schule eingestellt wurde, würde er mir niemals verzeihen, dass ich Ruslan nicht geheiratet hatte. Aus diesem Grunde musste jetzt eine Hochzeit stattfinden, egal mir wem.
Ich liebte Chamil, denn er war so anders als mein Vater. Er war geduldig und er verstand mich. Er fragte auch immer nach meiner Meinung, wenn es um unsere gemeinsame Zukunft ging. Während des Studiums hatte er mich mit Lernstoff unterstützt und mir viele wertvolle Hinweise auf Literatur gegeben. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte.
In den Augen meines Vaters war mit mir alles schief gegangen. Er schob meinen Eigensinn auf die Ausbildung und darauf, dass ich das Elternhaus verlassen hatte und so sein Einfluss mich nicht mehr erreichte. Deshalb durften meine Schwestern nicht einmal eine höhere Schule besuchen. Mein Vater hatte genug von der „Bildung“ und was die Folge davon war.
Meine Schwester Aimani war 18 Jahre und Zieba war 16 Jahre alt. Beide lebten zu Hause und arbeiteten im Haushalt mit. Sie waren zufrieden mit ihrem Leben, denn sie würden bald heiraten. Die Wahl des Bräutigams für die beiden war meinem Vater besser gelungen. Es war abzusehen, dass sie glückliche Ehefrauen würden. Meine Mutter hatte das ihrige dazu beigetragen. Aimani und Zieba waren liebenswert und gefügig. Sie verstanden es zu kochen, zu backen und zu putzen. Jeder Winkel unseres Hauses war bis zur Besessenheit geputzt und klinisch rein. Unsere Kleidung war vom vielen Waschen ganz dünn und es gab im ganzen Haus keinen Fleck, der nicht täglich auf Staub oder sonstigen Schmutz überprüft wurde. Das Gehäuse unseres Fernsehers hatte keinen Lack mehr.
Trotz der Ungleichheit unter uns Schwestern gab es keinen Streit. Wenn ich in meinem Zimmer saß und meinen Unterricht vorbereitete, kamen sie manchmal herein,
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