Gefangen im Terror (German Edition)
noch immer nicht erklären, warum Chamil nicht in der Schule dabei gewesen war. Sie hatten die Sprengstoffpakete ohne seine Überwachung verladen. Einige der Helfer waren so gut von ihm trainiert, dass die Platzierung in der Schule und die Sprengungen auch ohne sein Kommando funktioniert haben. Niemand hatte ihn gesehen, auch sein Bruder hatte nur mit den Achseln gezuckt, wenn man ihn nach Chamil befragte. Schließlich war die Sache ohne ihn gelaufen. Achmed hatte immer versucht, ihn über sein Handy zu erreichen, doch es war tot. Chamil war vielleicht tot oder untergetaucht, aber wenn sein Freund auf der Flucht war, würde er es erfahren. Dann würde er reagieren. Er hoffte, dass Chamil sein bisheriges Leben unbehelligt weiter führen konnte. Es war ihm ja nicht anzusehen, dass er einer der Terroristen war. Er rechnete fest mit seiner Hilfe. Er würde ihm entsprechende Papiere besorgen können, um für einige Zeit ins Ausland zu gehen.
Am nächsten Tag bestand mein Vater darauf, Chamils Mutter und Geschwister zu verständigen. Also fuhren wir nach Grosny. Ich war seit über einem Jahr nicht mehr in dieser Stadt gewesen. Ich war überrascht, was sich in Grosny getan hatte. Aus dem ursprünglichen Trümmerfeld mit wenigen intakten Häusern war wieder eine funktionierende Stadt geworden. Bereits auf der ersten Einfallstraße kam eine Straßensperre. Mein Vater zeigte seinen Ausweis und seine Papiere. Der Soldat behandelte uns sehr unfreundlich, seine Kommandos klangen wie Peitschenhiebe: Ausweis, Autopapiere her! Was wollen sie hier? 1000 Rubel. Verschwinden Sie!
Wir wussten nicht wofür wir zahlten. Mein Vater verzog keine Miene und sagte kaum ein Wort. Er bezahlte und erst als wir die Sperre passiert hatten sagte er: „Diese elenden Verbrecher! Zuerst waren es die Russen und jetzt ist es die tschetschenische Miliz. Wo ist da der Unterschied?“
Ich gab ihm keine Antwort. Die staubige Landstraße wurde auf der einen Seite von alten Nussbäumen begrenzt. Sie waren wie Überbleibsel aus einer besseren Zeit, aber auch sie hatten gelitten. Die Kronen waren zerstört und nur ein paar abgeknickte Äste standen in die Luft. Dort wo sich ein paar grüne Blätter zeigten, lag dicker grauer Staub auf ihnen.
Ich hatte meinem Vater gesagt, er solle in Richtung Norden fahren. Denn ich war nur einmal bei Chamil zu Hause gewesen und obwohl er mir den Weg beschrieben hatte, war ich sehr unsicher, ob ich das Haus wiederfinden würde. Die einzelnen Straßenzüge sahen fast gleich aus. Ich hoffte, dass ich das Haus oder die Gegend wiedererkennen würde, wenn wir dort waren. Es gab immer noch abgebrochene Hausfassaden, und in dieser Gegend sahen nur wenige der Gebäude wie menschliche Behausungen aus. Alle Mauern waren von Kugeln durchlöchert. Vieles war zugedeckt worden. Die Trümmer waren inzwischen weggeräumt, die Hoffnungslosigkeit war geblieben. Zwischen den Häusern spielten kleine Kinder. Eine alte Frau zog eine Karre mit Gemüse.
Ich dirigierte meinen Vater in ein kleines Viertel, in dem nur einstöckige Häuser standen. Sie sahen alle gleich aus und unterschieden sich nur durch die Vorgärten, die teilweise ungepflegt waren. Ich bat meinen Vater anzuhalten. Es war einfacher, zu Fuß weiterzugehen. Wir irrten kreuz und quer durch das Stadtviertel, kein Erwachsener war zu sehen. Dann stand ich plötzlich vor einer blau gestrichenen abgeblätterten Haustüre. Hier musste es sein.
Ich klopfte an. Nichts rührte sich. Dann hörte ich aus dem Nachbarhaus eine Stimme. Chamils Mutter kam aus der Tür. Sie ging nach vorne gebeugt, den Kopf leicht schief haltend, den Blick auf meinen Vater gerichtet: „Wo ist er?“ fragte sie tonlos.
„Chamil lebt“, gab ich ihr zur Antwort. Dann erst sah sie mich an. Sie ging voran und öffnete die Türe. Mit einer Handbewegung bat sie uns herein. Als wir Platz genommen hatten sagte sie zu mir: „Wie ist er entkommen?“ Obwohl ich nicht verstand, was sie mit entkommen gemeint hatte, antwortete ich: „Er hatte einen Bauchschuss und wurde operiert. Jetzt ist er bei uns zu Hause und ich pflege ihn.“ Eine von Chamils Schwestern bracht uns Tee und Gebäck. Dankend nahm ich die Tasse in die Hand. Ich war so froh, dass Chamils Mutter so gefasst reagiert hatte.
Mein Vater, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte, wandte sich an Chamils Mutter: „Dein Sohn wird schon bald zu euch zurückkehren können. Fatma ist eine gute Pflegerin.“ Erschrocken sah sie meinen Vater an: „Es ist besser
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