Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
sangen zur Gitarre wunderschöne Lieder, die von Frieden und Freude, von klingelnden Glöckchen und vom Christkind handelten. Ein riesiger Weihnachtsbaum mit bunten Kugeln und glitzernden Lichtern stand mitten im Raum. Unsere staunenden Kinderaugen müssen mit den Kerzen um die Wette geleuchtet haben. Unter dem Baum stand eine raffiniert beleuchtete Krippenlandschaft, über der ein Stern blinkte, und prächtig ausstaffierte Gestalten bestaunten das Jesuskind. Plötzlich begriff ich, dass dieses Jesuskind genau so arm war wie wir. Es hatte auch nichts anzuziehen und keine Schuhe an den winzigen Füßchen, obwohl doch Winter war. Wahrscheinlich hätte es sich über eine warme Decke und Söckchen mehr gefreut als über Gold, Weihrauch und Myrrhe. Ansonsten interessierte ich mich sehr für den riesigen Teller mit Gebäck und Schokolade: Die Köstlichkeiten waren mit buntem Zuckerguss verziert, daneben lagen pralle Mandarinen, Nüsse und glänzende, pausbäckige Äpfel. Ich konnte kaum fassen, dass ich dort tatsächlich einmal hineingreifen durfte. Jedes Kind bekam ein kleines Säckchen an einer Kordel und durfte es mitsamt duftenden Zimtsternen, Vanillekipferln, Nüssen und Mandarinen nach Hause tragen. Ich hütete meines wie einen Schatz und steckte immer wieder mit geschlossenen Augen die Nase hinein: so himmlisch musste es im Paradies duften! Aber wie kam man da nur hin? Seit der Sache mit Eva, die aus Neugierde und Übermut einen verbotenen Apfel vom Baum gepflückt hatte, mussten wir alle in diesem irdischen Jammertal leben, schuften, frieren, hungern und darben. Manchmal hatte ich schon einen ziemlichen Zorn auf diese Eva. Warum hat der eigentlich niemand den Apfel aus der Hand geschlagen und ihr ordentlich mit dem Schürhaken den Hintern verdroschen? Dann wäre uns viel erspart geblieben.
Meinen Vater haben wir damals bestürmt, doch auch zu Hause so ein Weihnachten zu feiern: »Nur ein kleines bisschen feierlich, bitte, bitte, lieber Vater! Nur eine Kerze oder zwei, und vielleicht ein Lied, ein paar Holzfigürchen und einen Baum, bitte, Vater, einen Baum!«
»Ihr seht wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht!«
»Und Kekse, Mutter, bitte, nur ein paar kleine selbst gebackene Kekse!«
»Woher soll ich denn das Geld für die Zutaten nehmen? Butter und Eier könnten wir uns ja noch vom Munde absparen, aber wisst ihr, was Mehl, Zucker und Backpulver kosten?«
Nein. Wir wussten nur, dass andere Kinder das alles hatten und wir nicht.
Der Vater hockte in seinem blauen Fabrikdrillich erschöpft am Tisch. Doch als er unsere Kostbarkeiten bestaunte, kam so etwas wie Leben in das versteinerte Gesicht. Seine abgearbeiteten, verschwielten Hände drehten die Figürchen hin und her, und sein Blick ging in die Ferne. Ein Jahr später trauten wir Kinder unseren Augen kaum: In der Stube hing ein winziges Tannenbäumchen von der Decke, und darunter stand eine alte Apfelsinenkiste, die er eigenhändig zum Stall umfunktioniert hatte. Drei selbst geschnitzte Holzpüppchen stellten Maria, Josef und das Jesuskind dar. Wir konnten es nicht fassen, dass das Christkind auch zu uns in die Arme-Leute-Siedlung gekommen war, ins vorletzte Haus des vergessenen Tales. Wir knieten staunend und betend davor. Nach Weihnachten war die ganze Pracht wie von Zauberhand wieder verschwunden, aber zuverlässig zum vierundzwanzigsten Dezember tauchte sie jedes Jahr wieder auf. Und jedes Mal hatte das Wunder noch an Pracht dazugewonnen: Da waren noch mehr Püppchen, die Hirten darstellten, da hatte das Jesuskind ein Bettchen aus Stroh, eine winzige Decke. Maria war nun in ein blaues Gewand gekleidet, Josef rauchte Pfeife, aus Kastanien waren Schäfchen geworden, und an den Apfelsinenkistenwänden klebten Tapetenreste. Sogar eine Küche mit Öfchen, Pfännchen, Töpfchen und Schüsselchen war vorhanden! Nun konnten wir dem Jesuskind mit Brotkrümeln und Wasser ein Süppchen kochen. Dass mein Vater auch weiche Züge besaß, hat er nicht nur mit dieser Krippe bewiesen.
Als ich in die zweite Klasse ging, hatte uns die Lehrerin als Hausaufgabe gegeben, einen Eulenspiegel aus Buntpapierstückchen zu kleben. Natürlich hätten wir das auch aus alten Zeitungen machen können. Im Plumpsklo auf dem Hof gab es genug davon. Man konnte aber auch dieses wunderbare Lack- und Buntpapier kaufen, für 20 Pfennige ein Heft mit sechs verschiedenfarbigen Blättern. Hinten Spucke drauf, und die Papierfitzelchen klebten dort, wo man sie haben wollte. Ich wollte, wollte,
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