Gefangen
heben oder gar wegrennen.
Tut er mir das an? Oder ist es ihre Angst, die mich niederhält?
Carmens Augen sind das Einzige, was ich bewegen kann. Ich beobachte die Gestalt, die vor mir schwebt, als berührten ihre Füße nicht den Boden. So riesig ist sie, dass sie mit dem Kopf fast die Decke durchstößt.
Es gibt nicht viel, was mir Angst macht. Doch hier steht der Leuchtende, der mir ähnelt wie ein Bruder, ein Zwilling. Er ragt über mir auf mit vorwurfsvollem Blick, in seiner linken Hand brennt eine Flamme. Entsetzen erfasst mich.
„Ich glaube ihm nicht“, sagt er, wie um etwas zu bestreiten, was ich gerade laut geäußert habe.
Licht dringt aus jeder Pore seines Körpers, als wäre er ganz daraus gemacht. Seine Stimme ist zugleich schrecklich und schön, wie Donner, der aus weiter Ferne anrollt, ein heller, strahlender Hörnerklang. Wie kann Ryan im Nebenzimmer schlafen, ohne etwas zu hören?
„Du kannst dich nicht verändert haben.“ Ein ungläubiger Ton liegt in der Stimme des Fremden. „Es ist dir nicht gegeben. Du warst immer so kompromisslos, so unbeugsa m …“
Ich möchte ihn anschreien, ihm verbieten, in Rätseln zu sprechen, aber die Kraft, die mich auf meinem Bett festhält, ist so stark, dass ich nicht mal meine Stimmbänder gebrauchen kann. Es ist fast noch schlimmer als meine Höhenangst, dieses Gefühl, eingeschlossen und ohnmächtig zu sein. Wie in einem Grab. Carmens Körper gleicht einem lebenden Leichentuch, in dem ich gefangen bin. Lebendig begraben. Der Schrecken ist so groß, dass mir die Tränen in die Augen schießen und über mein erstarrtes Gesicht rinnen.
Tu mir das nicht an!, heule ich stumm, während mir überall der Schweiß ausbricht und langsam das blütenweiße Laken durchtränkt. Carmen verdreht panisch die Augen, als wir uns mit vereinten Kräften auf die Gestalt am Fußende des Bettes zu konzentrieren versuchen.
Die flammende Gestalt bewegt sich so schnell, dass ich ihr kaum mit den Augen folgen kann. Auf einmal steht sie neben mir, auf Carmens linker Seite. Ich könnte sie berühren, wenn es mir erlaubt wäre. Lichtschwaden quellen aus ihr hervor, kringeln sich in der kühlen Schlafzimmerluft, um schließlich zu verschwimmen und zu erlöschen. Das Gewand des Fremden ist von einem derart blendenden Weiß, dass ich nur die Umrisse, das Leuchtende wahrnehme.
Und doch bin ich mir ganz sicher, dass ich ihn schon mal gesehen habe, nicht erst neulich am Straßenrand. Ich muss ihn schon gekannt haben, als ich noch wahrhaft lebendig war und in meinem eigenen Körper wohnte. Woher ich das weiß, ist mir eine Rätsel.
Jetzt beugt er sich dicht zu mir herab und wispert mit einer Stimme, die selbst Stein erweichen könnte: „Ich wollte nur mit eigenen Augen sehen, wie du dich ‚verändert‘ hast. Er hat wieder maßlos übertrieben. Nichts deutet darauf hin, dass du eine andere Stufe erreicht hast.“
Er wendet sich von mir ab, als wäre er bekümmert oder enttäuscht. Als wollte er in den Flammenwirbel zurückzukehren, aus dem er gekommen ist.
Der Kraft, die mich auf Laurens Bett festhält, lässt ein wenig nach, und ehe ich mich zurückhalten kann, keuche ich: „Uri?“ Etwas tief in meinem Innern, von dem ich nichts ahnte, hat ihn erkannt.
Die hohe Gestalt erstarrt und drehte sich rasch wieder um, mustert mich wie eine Kuriosität, ein Überbleibsel aus einem anderen Zeitalter.
Uris Stimme ist wie stummes Brüllen, wie Wellendonner an allen Küsten dieser Welt, ein Schlag, der die Himmel spaltet. „Wa s – has t – d u – gesagt?“
Eigentlich müsste ich jetzt Angst haben. Luc hat mich oft ermahnt, vorsichtig zu sein. Er wollte, dass ich mich fürchte. Aber „Furcht“ ist nicht das richtige Wort für das, was ich fühle.
Das Wesen, Uri, hebt die Hand mit der Flamme, damit es Carmen besser sehen, mich in ihrem Körper wahrnehmen kann. Uri lässt das Licht über Carmens unscheinbare Züge wandern, über ihre schmächtige Gestalt, die unter Laurens Decken liegt.
Verächtlich verzieht er den Mund: so winzig, so sterblich. Ich kann fast seine Gedanken lesen. Ich konnte immer schon seine Gedanken lesen.
„Uri!“, schreie ich wieder, als wäre ich am Ertrinken. „Ich kenne dich!“
Und für einen Moment ist mir, als ob sich eine unsichtbare Hand um meinen Hals legte und Carmens Luftröhre zudrückte, bis mir schwarz vor Augen wird und die Umrisse der Welt ins Wanken geraten.
Plötzlich fürchte ich, dass ich in diesem fremden Körper sterben könnte, und
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