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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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würge hervor: „D u – machs t – mi r – kein e – Angst. Da s – has t – d u – noc h – nie geschafft.“
    „Lügnerin“, donnert die Gestalt, dieses Wesen aus reiner Energie. „Ich kann sie riechen, deine Menschenangst. All die langen Jahre haben dich geschwächt. Vielleicht hat er ja Recht. Du hast dich wirklich verändert: Du bist noch schwächer als zuvor.“
    Wieder betont er seine Worte so seltsam. Ich ringe verzweifelt nach Luft, sauge mit aller Kraft Sauerstoff in Carmens erschlafften Körper und versuche gleichzeitig zu begreifen, was Uri meint.
    Er lacht rau. „Wie sonst hätten wir ihn von dir fernhalten können, wohin du auch gingst?“ Wieder lacht er. Und ganz unmerklich wächst die Energie im Raum, diese seltsame, verzehrende Kraft, bis die Luft davon knistert und ich stocksteif werde.
    Ich bin starr vor Verlangen nach Bewegung, nach Luft, nach allem, was ich einst hatte. Wir waren einmal Freunde. Wir haben miteinander gelacht, wir waren ebenbürtig.
    „Wir haben die Welt beherrscht“, sagt er leise, als hätte er meine Gedanken gelesen, und ich weiß, es ist wahr.
    „Folterknecht!“, bringe ich keuchend hervor.
    „Verräterin!“, zischt er drohend.
    Das Wort ergibt keinen Sinn für mich, weil meine Erinnerung an eine Wand gestoßen ist.
    Einen Augenblick wird er unachtsam, lockert seinen Bann über mich, und ich strecke den Arm aus und packe seine Hand wie ein Ertrinkender, der zum letzten Mal aus dem Wasser auftaucht.
    Seine Haut ist so weiß wie Marmor oder Alabaster, glatt und makellos wie Glas oder Porzellan. Kein Fältchen zeichnet sich darauf ab.
    Ich drehe seine Handfläche nach oben, Carmens kleine Hand verliert sich schier darin, als das Brennen beginnt. Im Nu verschlingt das Feuer ihren linken Arm, ihren Torso, ihren ganzen Körper, bis wir in Weißglut erstrahlen, in flammender Glorie erstarrt.
    Uri blickt auf uns herab. Mitleidig? Wir brennen, brennen , und unser Mund dehnt sich zum Schrei, einem Schrei, der die Mauern dieses Hauses niederreißen wird, da sehe ic h … ich seh e …
    … zwei große Menschenheere, die in einer Wüstenebene kämpfen, darunter Wesen wie Uri. Manche dieser Wesen schweben hoch über den Festungswällen der belagerten Stadt, sehen zu, wie Krieger zuhauf fallen in Rüstung, zu Pferd, zu Fuß. Hörnerschall und schmetternde Zugposaunen rufen sie in den Tod. Ein Meer von Blut versickert im Sand und die Lichtgestalten sehen tatenlos zu.
    Wie ein Stern steht Uri über alle m – der Kuppel einer großen Moschee, den Mauern eines riesigen Wüstenforts, das rot im Sonnenuntergang schimmert, dem Bergfried eines schwebenden Palasts, der von Musik und Jasminduft erfüllt ist, über dem höchsten Gebirge der Welt und dem Glockenturm einer Stadt, die von Pest und Tod überrollt wurde.
    Ich sehe Uri, wie er vom Himmel stürzt und leichtfüßig auf der Erde landet. Uri, der wie ein Geist durch die Leiber einer großen Ansammlung schreitet, ohne Spuren zu hinterlassen. Uri an den unmöglichsten Orten, wie er mühelos alle Naturgesetze überwindet.
    Dann werden die Jahre rasend schnell zurückgedreh t – oder laufen sie vorwärts? Städte, die zerstört und wieder aufgebaut werden, immer die neue Stadt auf der alte n – oder die alte auf der neue n –, bis Muster, Erinnerungen und Zusammenhänge im wirbelnden Strom der Zeit verschwimmen. Durch Uris Augen sehe ich Sonne und Mond im ewigen Rhythmus über den Himmel wandern, während in den Menschenstädten Brände, Hungersnöte und Kriege wüten. Immer neue Zivilisatione n – berühmte und längst vergessen e – verbreiten sich über den Erdball, die Bauwerke werden größer und prächtiger, wie Pflanzen, die sich gierig der Sonne entgegenrecken. Wir überqueren Kontinente, Meere, Wälder und riesige Eisschollen, erleben all dies gemeinsam, sind auf unerklärliche Weise miteinander verbunden, während die Jahreszeiten vorüberziehen und alles um uns herum in ewigem Wechsel gedeiht und verfällt. Und immer wieder die Gesichter der Menschen. Es sind Millionen von Menschen jeden Glaubens, jeder Hautfarbe, jeden Alters und jeden Standes, die dahinwelken und zu Staub zerfallen. Und mitten unter ihnen die Leuchtenden, stets wachsam, aber unbeteiligt, nur für ihresgleichen sichtbar. Selten lassen sie sich herab, in den Gang der Geschichte einzugreifen.
    Die Zeit krümmt sich wie auch Ton, Licht, Entfernung und Perspektive, und mit ihr verändert sich die Welt und alles darin. So lange, bis ich einen Blick

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