Gefangen
gelebt! Wie kannst du das bestreiten!“
Uris Gesicht ist undurchdringlich. „Nimm doch nur deinen gegenwärtigen Zustand. Zeigt dieses Geschöpf, in dem du wohnst, auch nur den geringsten Anflug von Willensfreiheit? Du bestimmst doch alles, was es tut.“
Einen Augenblick bin ich sprachlos. Dieses Argument kann ich nicht so leicht widerlegen.
„Ja, weil sie total gehemmt ist“, krächze ich schließlich.
„Nein, weil wir es so wollten“, entgegnet er ruhig. „Wir waren und sind die Herren über ihr Schicksal und unser eigenes. Nur einer hat Macht über uns alle. Der freie Wille ist ein Hirngespinst. Und du tust gut daran, wenigstens das nicht zu vergessen. Vielleicht hat er Recht. Vielleicht bist du wirklich so verändert, dass du nicht wiederzuerkennen bist.“
Ich flehe ihn jetzt beinahe an: „Aber sie ist wahrscheinlich noch am Leben, Bruder!“
Bei dem Wort „Bruder“ werden Uris Züge weicher.
„Wenn du mich schon nicht erlösen willst“, seufze ich, „dann tu mir wenigstens diesen kleinen Gefallen.“
Seine Miene verhärtet sich wieder und er schüttelt den Kopf, sodass ihm sein langes Haar nach hinten über die Schultern fällt, eine Strähne wie die andere, gerade, gleich lang und einförmig braun. „Bitte mich nicht darum, ich kann es nicht.“ Höre ich Trauer in seiner Stimme? Mitleid?
„Sag doch gleich, dass du nicht willst!“, stoße ich zornig hervor. „Wer bist du wirklich?“
Er antwortet mit tönender Glockenstimme: „Die Frage ist doch eher: Wer bist du?“
Wir funkeln einander zornig an, erstarren beide, als jemand die Treppe vor Laurens Zimmer herunterkommt. Schwere Schritte nähern sich im Flur, halten vor meiner Tür inne. Dann ein leises Klopfen.
„Carmen?“ Es ist Stewart Daley. Er klingt müde und erschöpft. „Ist alles in Ordnung? Soll ich hereinkommen?“ Der Türgriff dreht sich im Uhrzeigersinn.
„Nein, nein, alles okay“, krächze ich schnell, laut genug, dass der Mann mich draußen hören kann. „Ich hab nur schlecht geträumt, das ist alles. Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe.“
Hat er vielleicht öfter so vor der Tür gestanden und gehorcht, wenn seine Tochter im Bett lag und schlief?
Einen beklemmend langen Augenblick verharrt er draußen. Nur die dünne Tür trennt ihn von mir und meinem Besucher.
Im selben Moment, als M r Daley „Gute Nacht“ murmelt und seufzend den Rückzug antritt, flüstert Uri: „Luc will dich für sich haben. Ihm ist nicht zu trauen. Lass nicht zu, dass vergangene Gefühle dein Urteil trüben. Wenn du jetzt auf seine Machenschaften hereinfällst, bist du verloren. Du weißt es wahrscheinlich nicht und wirst uns auch nicht dankbar dafür sein, aber wir haben alles nur für dich getan.“
Bevor ich die Hand ausstrecken und ihn einen weiteren flüchtigen Moment festhalten kann, bevor ich ihm sagen kann, dass ich von Luc gefunden werden will , jetzt mehr denn je, geraten Uris Umrisse ins Wanken, zersplittern in winzige Lichtfünkchen, die spurlos erlöschen. Und wieder überwältigt mich die Einsamkeit, sodass ich einen Moment lang das Gefühl habe, ich wäre es, die zerbrochen ist und nie wieder zusammengefügt werden kann. Ich schreie all meinen Zorn und meinen Kummer in den Nachthimmel hinauf, wie ein Leuchtfeuer, ein Notsignal.
Hört mich denn keiner?, schreie ich stumm. Exaudi me, Domine!
Wieder einmal wird mir bewusst, welch unersetzlichen Schatz ich verloren habe.
Wer bin ich? , wispert meine innere Stimme, die nie verstummt. Wessen bin ich fähig?
Kapitel 18
Trotz allem, was Ryan mir gestern Abend erzählt hat, lasse ich mich nicht von meiner Spur abbringen und werde Gerard Masson heute Morgen in der Probe wie zufällig berühren, um seine innersten Gedanken zu erkunden. Dann wird sich zeigen, ob er unschuldig ist. Schuld ist wie Öl, wie Blut, beide dringen früher oder später an die Oberfläche. Man muss nur sein Augenmerk darauf richten.
Meine Begegnung mit dem Wesen namens Uri hat mir bestätigt, wie groß meine Macht ist. Nichts und niemand vermag ihr zu widerstehen, zumindest in dieser Welt.
Und doch ist mir immer noch nicht klar, was Uris Warnung zu bedeuten hat. Einzelne Worte kehren zurück und quälen mich mit ihrer Rätselhaftigkeit, während ich Carmens pinkfarbene Glitzihaarbürste nachlässig durch ihre zerzausten Locken ziehe und mich in ihre Puppenkleider zwänge.
Was haben sie alles nur für mich getan? Und warum? Und was sollte Uris angebliche Geste des guten Willens beweisen?
Weitere Kostenlose Bücher