Gefangen
Was hat er zugelassen?
Ich jage den Antworten in Carmens unzuverlässigen Gehirnwindungen nach, obwohl ich weiß, dass sie dort nicht zu finden sind, sondern irgendwo tief in mir vergraben, im Geist der Maschine.
Als ich mir den Moment des reinen Schmerzes, der grenzenlosen Leere in Erinnerung rufe, bin ich wie taub vor Schreck. Es ist der Nachhall eines tieferen Kummers, dessen Ursache ich nicht erfasse. Und obwohl ich selbst nicht weinen kan n – nie dazu geschaffen war, korrigiert mich die leise Stimme in meinem Innere n –, entdecke ich Tränenspuren in Carmens Gesicht. Sie fallen auf, als ich sorgfältig den kirschroten Gloss auf ihren winzigen Lippenbogen auftrage und ihr kleines Näschen mit dem bronzefarbenen Puder betupfe, den ich unten in ihrer Reisetasche gefunden habe.
Tränen für mich, von einer Fremden geweint.
Als ich endlich zum Frühstück runtergehe, hat Ryan bereits das Haus verlassen, wahrscheinlich ist er auf einem seiner geheimen Erkundungsgänge. Ich ertappe mich dabei, dass ich ihn vermisse.
Hinter Carmens ruhiger Fassade liege ich im Clinch mit mir selbst.
Jemand in deiner Lage, verkündet meine innere Stimme trocken, kann sich keine Gefühle leisten, keine tieferen Bindungen. Das ist eine Tatsache.
Glaubst du, ich weiß das nicht?
Nein, aber ich will verhindern, dass du dir in die Tasche lügst.
Klugscheißerin.
Carmens Frühstück ist wie immer sehr mager ausgefallen, als ich vom Tisch aufstehe; ihr Körper ist eine Maschine, die nur wenig Brennstoff braucht. M r Daley bietet mir überraschend an, mich in die Schule zu fahren.
Louisa Daleys dunkle Augen fixieren mich kurz, dann sagt sie in neutralem Ton: „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Carmen“, und wendet sich ab.
„Wir haben uns kaum um dich gekümmert“, sagt M r Daley entschuldigend. Er öffnet mir die Tür und lässt mich vorausgehen. „Dabei ist schon eine Woche um. Dass ich dich mitnehme, ist das Mindeste, was ich tun kann.“
Was hat er gestern Nacht gehört, als er vor Laurens Tür stand? Ich bin plötzlich hellwach und auf der Hut.
„Ähm, das ist sehr nett von Ihnen“, bringe ich schüchtern hervor und lasse ein bisschen den Kopf hängen. „Aber bitte gehen Sie vor, M r Daley. Die Hund e …“
„Ach ja, richtig.“ Er schaut mich einen Augenblick fragend an, etwas zu lange für meinen Geschmack.
Wie ähnlich er Ryan doch ist. Die Zukunft des Sohnes ist im Gesicht des Vaters vorgezeichnet. Bitte lass nicht noch mehr Kummer darin sein!, denke ich, und es ist fast ein Gebet.
M r Daley sperrt die Hunde weg und hilft mir auf den Beifahrersitz, wobei wir beide sorgfältig jede Berührung vermeiden. Es ist schon fast lächerlich. Irgendwann werde ich ihn noch mal anfassen müssen, um mir Gewissheit über ihn zu verschaffen. Aber zuerst ist der kleine Musiklehrer dran. M r Daleys Seelenqualen stehen mir noch zu lebendig vor Augen, als dass ich einen neuen Versuch wagen könnte. Außerdem vertraue ich Rya n – vielleicht zu sehr. Allein dies einzugestehen, bedeutet einen großen Vertrauensvorschuss. Denn Vertrauen war bis jetzt immer ein Fremdwort in meiner seltsamen Zwischenwelt.
Stewart Daley überbrückt das Schweigen auf der Fahrt mit belanglosem Small Talk. Ich murmle hin und wieder eine Antwort. Beteure höflich, wie gut es mir in seinem idyllischen Kaff gefalle, lüge wie der Profi, der ich ja auch bin, während ich auf das Duftbäumchen starre, das am Rückspiegel hin und her schwingt.
Als er mich vor dem Haupteingang der Schule absetzt, sagt er plötzlich: „Du scheinst einen guten Einfluss auf meinen Querkopf von Sohn zu haben. Ryan will sogar im Frühjahr wieder in die Schule gehen, und das hat garantiert etwas mit dir zu tun. Vielleicht gibt er diese n … Unsinn dann endlich auf.“
Ich will mich schon aus dem Auto schwingen, aber jetzt drehe ich mich noch mal um. „Das ist kein Unsinn, M r Daley“, antworte ich ernst.
Ich bin drauf und dran, ihn zu berühren, mache aber dann doch einen Rückzieher und greife statt nach seiner Hand nach Carmens Schultasche zwischen meinen Füßen. Später vielleicht. Ich bin kein Feigling, wirklich nicht, aber in dieser Hinsicht reagiere ich wie der Pawlow’sche Hund. Oder ein gebranntes Kind, das das Feuer scheut.
Beschwichtigend füge ich nun hinzu: „Sie müssen einfach dran glauben, dass Lauren noch irgendwo da draußen ist. Und dass sie eines Tages wieder nach Hause kommt. Ich tu’s jedenfalls.“
Sofort erlischt der offene, freundliche
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