Gefangen
Ausdruck in seinem Gesicht und seine Augen werden leer. Er schaut weg und sagt mit dumpfer Stimme: „Aber das ist doch verrückt. Und es kann nur in den Wahnsinn führen. Unser Therapeut hat gesagt: ‚Wenn Sie sich nicht damit abfinden, dass sie tot ist, wird die Wunde nie verheilen.‘ Es ist wichtig, dass wir mit dem Unglück abschließen. Da muss ich seinem Rat einfach vertrauen.“
Ich blicke Stewart Daley nach, als er, begleitet von lautem Fluchen und einem durchdringenden Hupkonzert, eine scharfe Kehrtwendung auf der völlig überfüllten zweispurigen Fahrbahn macht und dann in Richtung Hauptstraße davonrast.
Gerard Masson passt mich ab, bevor ich mich unauffällig unter die restlichen Soprane mischen kann. Überall werden noch Stühle gerückt und die Leute verteilen sich über den Saal.
„Guten Morgen, Carmen“, sagt M r Masson fröhlich und legt seine plumpe Hand auf meinen Arm.
Ich bleibe stehen und starre ihn durchdringend an. Er ist ein typischer Grapscher und ich weiche instinktiv zurück. Ich kann es nicht ertragen, angefasst zu werden. Außerdem stinkt er nac h … Alkoho l – wie ein ganzes Weinfass. Bin ich die Einzige, die das merkt? Ich kann mich gerade noch daran hindern, meinen Arm wegzureißen.
Ich überlege hastig: Soll ich es jetzt gleich machen? Gleich hier an Ort und Stelle in seinen Kopf eindringen, um die Wahrheit über ihn zu erfahren?
„Guten Morgen, M r Masson“, flötet Tiffany und setzt ihr strahlendstes Unschuldslächeln auf. Wie üblich ist ihr nichts entgangen. Sie ist wie ein sensationsgieriger Paparazzo, der vor jeder Haustür lauert und immer am Ball bleibt. „Ich wollte nur fragen, ob Sie uns noch ein paar Tipps geben wollen, bevor die Probe anfängt“, fügt sie hinzu. „Ob es vielleicht etwas gibt, woran wir , der Sopran, noch arbeiten müssen.“ Sie blickt in die Runde und klimpert mit den Wimpern, als wäre sie die unangefochtene Herrscherin im Saal. Die arme Tiffany und ihre große, tragende Stimme!
Alle Mädchen aus dem Sopran starren jetzt M r Masson an, der mich noch immer am Arm festhält. Und leider kann ich mich nicht in eine improvisierte Trance versetzen, weil Tiffany und ihr ganzes Gefolge mich mit giftigen Blicken durchbohren. Obwohl seine Hände zittern, klingt Gerard Masson beherrscht. „Eigentlich nicht, Tiffany. Der Sopran macht seine Sache gut. Ich wüsste nichts, was nicht in der Probe für den ganzen Chor korrigiert werden könnte. Ich wollte nur unsere Carmen hier kurz beiseitenehmen, um ihr ein Extrasolo im bevorstehenden Konzert anzubieten. Sie ist eine echte Offenbarung, seit sie aus ihre m … äh m … Schneckenhaus herausgekommen ist.“ Beim Sprechen bohren sich seine Finger in meinen Ärmel. „Ich dachte an geistliche Musik“, haucht er.
Ich würde gern zurückweichen, kann aber nicht, weil kein Platz da ist.
„Allerdings etwas Leichteres, nicht so wuchtig wie die Mahler-Sinfonie. Vielleicht ein Stück von John Rutter? Oder ein Willcocks-Arrangement?“
John wer, bitte? Ich muss mich scharf zur Ordnung rufen, damit Carmen nicht mit offenem Mund dasteht.
Masson strahlt mich an, und ich hoffe, dass Carmens Gesicht die nötige Begeisterung ausstrahlt, obwohl ich weder Zeit noch Lust habe, weitere Partituren auswendig zu lernen. Carme n – die wahre Carme n – wäre jetzt wahrscheinlich außer sich vor Freude. Allerdings würde sie nur zu bald wieder von nagenden Selbstzweifeln geplagt werden.
Tiffany lässt nicht locker. „Carmen und ich haben oft Duette in der St . Joseph’s gesungen“, hakt sie unbeirrt nach. „Viele davon können wir auswendig. Und Sie werden es nicht glauben, aber eins von den Duetten, die wir geübt haben, ist sogar eine Rutter-Komposition, die Sie sicher kennen: Angels’ Carol. Das wäre eine fantastische Abrundung für das Progr…“
„Ja, genau“, werfe ich hastig ein, „warum lassen Sie nicht Tiffany das Solo singen? Sie hat viel mehr Erfahrung als ich. Und wenn jemand das Zeug dazu hat, ein richtiges Killerfinale hinzulegen, dann ist sie das, stimmt’s, Tiff?“
Plötzlich durchzuckt mich ein Schmerz, ein Stich in die Seite, und ich sehe, wie Delia und Marisol ungläubige Blicke wechseln. Tiffanys Gesicht erstarrt zu einer geschockten Grimasse.
„Danke für dein freundliches Angebot, Tiffany“, wehrt Gerard Masson ab; er steht immer noch viel zu dicht bei mir. „Aber ich habe da ein paar spezielle Stücke im Sinn, die, wie ich meine, Carmens besonderes Talent zur Geltung bringen
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