Gefangen
Gruß.
Ich muss später in meiner „Einzelstunde“ irgendwie noch an M r Masson herankommen, um mir Gewissheit über ihn und Lauren zu verschaffen. Dann hat es sich wenigstens gelohnt, mit dem alten Grapscher in einem Raum eingesperrt zu sein.
Kapitel 19
„Gemütlich hier, was?“, sagt Paul Stenborg ernst, aber mit einem Zwinkern in den Augen, während er schwungvoll einen Klavierakkord anschlägt und sich auf dem Klavierstuhl halb zu uns umdreht, sodass das Sonnenlicht in seiner Metallbrille blitzt und in seinem kunstvoll zerzausten Haar spielt.
Er probt geduldig den Einsatz zu Phrase dreißig mit den Jungen, arbeitet mit jedem von ihnen an seinen individuellen Schwachpunkten, bevor er mit einer Reihe von Einsätzen weitermacht, die von einem Bass und einem Alt angeführt werden.
„ Lumen acende sensibu s – zünd an in uns des Lichtes Schein“, singt er an einer Stelle und hilft Delia Note für Note über eine schwierige Passage um Phrase dreiunddreißig herum hinweg.
Ich setze mich verwundert auf. Seine Stimme ist wie flüssiger Bernstei n – leicht, rein, schmiegsam. Viel schöner und ausdrucksvoller als Delias mittelmäßiges Organ. Eine Kontertenorstimme, eine Engelsstimme, einfach umwerfend. Dieser Mann ist voller Geheimnisse. Eindeutig mehr als nur eitle Fassade. Ich frage mich wieder, warum er mit alldem hier zufrieden ist.
„Amorem cordibus“, verbessert er Spencer einen Augenblick später sanft und mit theatralisch rollendem R. „Deine Vokale sind auch zu flach. Das hier ist eine Sprache der Liebe, Spencer Grady. Die Mutter aller Romantik. Diese Phrase fleht dich praktisch an, mehr Herz hineinzulegen.“
Er lacht über seinen kleinen Scherz. Aber nur ich verstehe ihn.
Seltsamerweise schaut Paul den ganzen Morgen kein einziges Mal zu mir her. Stattdessen ist er äußerst aufmerksam gegenüber Tiffany und den anderen Mädchen. Zuweilen redet er geradezu freundlich mit Spencer, der jetzt längst nicht mehr so viel herumzappelt. Es ist, als wäre ich wieder unsichtbar. Ist er sauer auf mich? Ich kann Pauls Blick nicht auffangen und festhalten, und ich bin verwirrt, beinahe gekränkt.
Vielleicht will er das ja. Aber wie auch immer, ich spiele gern mit. Das gibt mir Zeit zum Nachdenken. Ich mag es nicht, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, mochte es nie. Obwohl ich damit umgehen kann. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
„Die Zeit ist fast um, Kinder“, sagt Paul schließlich und schwingt sich über die Lehne des Klavierstuhls zu uns herum. „Ich weiß, dass einige von euch nach der Highschool eine Bühnenkarriere anstreben und auch jeden Grund dazu habe n …“ Er lächelt Tiffany und Delia an, und die beiden Mädche n – abgebrühte, knallharte Bieste r – werden doch tatsächlich rot vor Freude. „Und da dem so ist“, fügt er hinzu und wendet sich wieder zum Klavier um, „wollen wir mal sehen, wie viel von unserer erfolgreichen Arbeit heute Morgen hängen geblieben ist. Ich fange ganz von vorne an, und ihr haltet euch ran und versucht mitzukommen. Die Schwachen werden ziemlich schnell auf der Strecke bleiben“, warnt er mit leisem Lachen. „Und ich kenne keine Gnade.“
Das Wort lässt mich zusammenzucken.
Ich zucke erneut zusammen, als Paul den ersten Akkord der Klavierbegleitung anschlägt. Er macht seine Drohung wahr, hetzt uns in fliegendem Tempo durch das Stück, nur gelegentlich innehaltend, um Tiffany, Delia, Spencer und den beiden Männerstimmen mit der rechten Hand ihren Einsatz zu geben, während seine Linke weiter über die Klaviatur tanzt.
Mich behandelt er nicht so höflich, sondern bellt nur „Phrase sieben“, „Phrase zehn“, „Phrase zwölf“ und so weiter, wann immer eine Phrase mit meinem Part beginnt, dem Ersten Sopran. Es gibt kein Innehalten, keine Atempause, und selbst ich werde bis an meine Grenzen gefordert.
„Gut“, murmelt er von Zeit zu Zeit, den Kopf über die Klaviertasten gebeugt. „Gut.“
Mahler im Eiltempo. Ein Glück, dass ich die Musik in- und auswendig kann: von oben nach unten und von vorne nach hinten und umgekehrt. Das rettet mich jetzt. Die andere n – außer Tiffany, die nur sieht, was sie sehen will, und nur hört, was sie hören wil l – folgen unserem Schlagabtausch mit betretener Ehrfurcht, blättern hektisch die Seiten um, versuchen verzweifelt, den Takt zu halten, mitzukommen, besonders dort, wo ich nicht in der Partitur stehe.
Gegen Ende, direkt vor meinem letzten, atemberaubenden Gloria um Phrase
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