Gefangen
langes, schwarzes Haar aus dem Gesicht streicht.
„Ich bin nur zurückgekommen, weil meine Tante wollte, dass ich auf Julias Hochzeit singe“, sagt Jennifer. „Also, wer weiß jetzt, dass wir hier sind?“ Die Hoffnung in ihrer Stimme tut weh.
„Nur Ryan und ich“, sage ich, mit dem Rücken zu beiden Mädchen, das Gesicht zur Wand. „Aber er müsste jetzt auf dem Weg hierher sein.“ Es klingt zuversichtlicher, als ich es bin. „Er weiß, wo wir sind. Wir wollten euch heute Nacht sowieso aus dem Keller befreien. Jetzt wird er eben alleine herkommen müssen. Wir brauchen nur zu warten, dann sind wir frei. So einfach ist das.“
„Gott sei Dank“, murmelt Jennifer, tiefe Erleichterung in der Stimme, obwohl sie nicht zu zittern aufhört. „Das ist super. Mir kommt das irgendwie alles wie ein schlechter Witz vor, ein total abartiger. Aber Momen t … bevor ich ohnmächtig wurde, hat er so was Merkwürdiges gesagt: Es sei eine Schande, wie groß und fett ich geworden se i …“ Ihre Empörung ist nicht zu überhören.
Ich runzle die Stirn. Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor.
„Und dass er mich lieber mochte, als ich noch kleiner war“, fährt Jennifer ungläubig fort. „So wie sie wahrscheinlich“, fügt sie hinzu und deutet im Dunkeln in Laurens Richtung.
Ich höre, wie Lauren scharf die Luft einzieht, und komme eine Sekunde später zu derselben Schlussfolgerung wie sie.
„Du meinst“, sagt Lauren mit zitternder Stimme, „ich war die ganze Zeit nur deinetwegen hier? Als Ersatz für dich? Weil er dich nicht haben konnte, hat er mich genommen?“ Ihre Stimme schießt eine Oktave in die Höhe, versagt beim letzten Wort.
„Das ist nicht gesagt“, erwidere ich, aber sie hat Recht. Das Timing ist zu gespenstisch, das kann kein Zufall sein. Vor zwei Jahren standen beide Mädchen zusammen auf der Bühne, in einem grandiosen Konzert, wie zwei bunte Singvögelchen. Zwei außergewöhnliche Soprane, so begabt, so vielversprechend. Der eine flog aus dem Nest, der andere wurde schnell in einen Käfig gesperrt.
Lauren fängt an zu jammern. „Du hast ja keine Ahnung, was er mir angetan hat!“
Plötzlich ist es ihr egal, ob die Bestie über uns die gnadenlose Aufzählung all der Sünden hört, die er in all der Zeit an ihr begangen hat. Je mehr sie redet, desto leiser wird ihre Stimme, immer leiser, immer monotoner.
Sie erzählt von schrecklichen Stunde n – Stunden, die wie Monate waren, wie mehrere aufeinanderfolgende Leben, von all dem Schmutz, der Erniedrigung. Und immer wenn sie einen Augenblick innehält, höre ich ihr raues Schluchzen.
„Es tut mir leid“, schreit Lauren, immer wieder, die Hände über dem Gesicht. „Es tut mir so leid ! – Er sagt, er will mich beschützen. Er sei der einzige Mensch auf der Welt, der mein Talent wahrhaft zu schätzen wisse.“
Obwohl mir beinahe das Herz bricht, bleiben meine Augen trocken, während ich reglos daliege, die Stirn an die Wand gedrückt. Komisch, ich selbst kann zwar nicht weinen, aber der Körper, den ich bewohne, folgt manchmal anderen Gesetzen. Ich bin dankbar für die Dunkelheit, weil ich mich auf diese Weise nicht verstellen muss.
„Letztes Jahr“, wispert Lauren, „habe ich mich einmal geweigert, ihm was vorzusingen. Da hat er mich so brutal geschlagen, dass ich fast gestorben wäre. Und wisst ihr was?“, fügt sie mit plötzlicher Wildheit hinzu, „ich war beinahe froh darüber. Ich war in der Hölle. Und bin’s immer noch. So wie ihr jetzt auch.“
Jennifer schluchzt laut, und ich fühle mich an Laurens Mutter erinnert, die der Kummer zerstört hat.
Ich stelle mir Lauren vor, vornübergekrümmt in diesem Raum, ganz allein, und etwas wie roter Nebel steigt in mir auf. Eine Minute lang kann ich nichts sehen, denn mein Kopf ist von einem entsetzlichen Brüllen erfüllt. Es ist ein Lärm, als würde eine ganze Stadt Stein für Stein niedergerissen, vom Erdboden vertilgt. Ein Feuersturm tobt in mir, mächtiger als ich. Ich kann ihn kaum bändigen.
Ich höre Jennifers Frage nicht. „Wo sind wir?“, wiederholt sie scharf. „Wo hat er uns hingebracht?“
„Du bist gar nicht weit weg von zu Hause“, erwidere ich abwesend, immer noch Blut in den Augen, das Brüllen in den Ohren, einen großen Sturm im Inneren. „Du bist in seinem Haus, in Laurence Barrys Haus. Wir holen dich raus.“
„Wie bitte? Das versteh ich nicht.“ Jennifer klingt verwirrt. „Laurence Barry? Stecken die etwa unter einer Decke?“
„Wieso?
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