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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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klarstellen muss.
    „Wir sind sein Typ“, sagt Lauren niedergeschlagen. „Ich glaube, e r … er sammelt Mädchen wie uns. Hortet sie wie einen Schatz.“
    Das stimmt. Paul hat es selbst zugegeben nach der Probe gestern Abend am Klavier, da hat er die ganze Zeit von sich selbst gesprochen und nicht von Barry. Ich habe es nur nicht begriffen, habe das Finstere, Doppeldeutige in seinen Worten nicht erkannt.
    „Weiß Ryan das? Weiß er von deinem wahren Ich?“, fragt Lauren und legt ihr Kinn auf die angezogenen Knie.
    Ich zögere einen Moment, bevor ich sage: „Nein. Aber er hat den Verdacht, dass ich nicht gan z … äh m … normal bin.“
    Beide Mädchen lachen leise.
    „Un d … Paul?“, fragt Jennifer. Sie schluckt nervös, bringt kaum seinen Namen über die Lippen.
    „Weiß nicht genau“, erwidere ich. „Ich glaube, ich war unter der Straßenlampe, als er mich geschnappt hat. Es ging wahrscheinlich alles so schnell, dass er nichts gemerkt hat. Und die Tatsache, dass ich im Dunkeln leuchte, dürfte wohl auch nichts änder n …“
    „ … oder dich für seine Sammlung weniger wertvoll machen“, wispert Lauren.
    „Und was kannst du sonst noch?“, fragt Jennifer mit einer Stimme, die ganz rau vom Weinen ist.
    „Weiß nicht“, sage ich langsam. „Singen.“
    „Singen können wir alle“, schnaubt Lauren angewidert. „Das hat uns ja erst in diese elende Lage gebracht. Ich werde nie wieder singen, wenn ich hier rauskomm e – nie wieder.“
    „Ich schon. Ich lass mir das nicht vermiesen“, widerspricht Jennifer heftig.
    „Wer weiß, ob ich überhaupt noch dazu fähig bi n … nach all dem“, sage ich.
    Ich verrate ihnen nicht, dass ich wie eine Katze im Dunkeln sehen und wildfremde Menschen perfekt imitieren kann. Ich will nicht, dass sie mir gegenüber befangen sind, und ich habe auch immer noch Zweifel, was mein Imitationstalent angeht. Vielleicht war es nur Idiotenglück oder eine kollektive Gehörhalluzination, was im Pfarrhaus geschehen is t – eine vorübergehende geistige Umnachtung. Ohne plausible Erklärung oder einen nachvollziehbaren Zusammenhang werde ich dieses Phänomen nicht al s … „Gabe“ klassifizieren.
    Wir schweigen lange. Alle drei.
    „Falls wir je hier rauskommen“, sagt Lauren plötzlich beschwörend, „musst du mir versprechen, dass du Ryan die Wahrheit über dich sagst. Mir wird er nicht glauben. Das muss von dir kommen.“
    Die eisernen Kettenglieder liegen kalt und schwer auf meinem Herzen, als ich die Knie unters Kinn ziehe, so wie vorhin Lauren.
    „Ach, er wird dir schon glauben“, sage ich sanft. „Er hat auch an dich geglaubt, als alle anderen dich längst aufgegeben hatten. Er hat sein ganzes Leben angehalten, nur um dich zu finden. Er denkt an nichts anderes. Er hat dich gehört, und er hat dich immer noch gehört, als sogar deine Elter n …“ Ich mache mir nicht die Mühe, den Satz zu beenden. Lauren hat genug durchgemacht, wozu es aussprechen? „Auf jeden Fall ist es toll. Er ist toll.“
    „Du magst ihn“, sagt Lauren nach einer Pause. Es ist eine Feststellung, keine Frage.
    „Ja, ich mag ihn“, gebe ich leise zu. „Aber Carmen wird ihn nicht wiedererkennen, wenn ich fort bin. Und ich kann jetzt jeden Moment weg sein. Ich habe nämlich die Angewohnheit, einfac h … davonzuflitzen. Das würde alles nur noch komplizierter machen. Also wenn er es nicht weiß, dann sag ihm nichts.“
    Dann fliegt die Tür an der Treppe oben krachend auf, und als das grelle Neonlicht an der Decke angeht, bin ich vorübergehend geblendet, so als rissen die Himmel auf.
    „Meine Damen“, sagt Paul Stenborg im lässigen Plauderton, während er die Tür hinter sich abschließt und den Schlüssel einsteckt.
    Ich habe diese Anrede immer gehasst, spüre eine unerklärliche Wut, wenn sie an mich persönlich gerichtet ist. Besonders jetzt. Ein dumpfer Schmerz breitet sich in meiner linken Hand aus.
    Jennifer und Lauren stöhnen in ihre Hände, kneifen ihre empfindlichen Augen zusammen, um sich vor der plötzlichen Lichtflut zu schützen. Carmens Pupillen ziehen sich zu winzigen Stecknadelköpfen zusammen, aber meine Augen passen sich mühelos an.
    Der Raum gibt seine grausigen, schmutzigen Geheimnisse preis: rostrote Flecken am Boden, an den Wänden, Eimer mit Exkrementen in einer Ecke, verfaulte Essensreste überall, leere Reinigungsmittel- und Wasserflaschen, Müll, Lumpen. Ich blicke zu dem Mann, der langsam die Treppe heruntersteigt, völlig ungerührt in seinem

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