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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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so faulig und stickig, dass ich sie auf der Zunge schmecken kann.
    Und ich liege auf etwas Rauem. Es quietscht, als ich probehalber meinen Arm bewege und meinen Kopf ein, zwei Zentimeter hochhebe. Ein Feldbett?
    Ich höre es atmen, aber das bin nicht ich. Eine Uhr tickt irgendwo.
    „Bist du okay?“, wispert jemand. Eine Mädchenstimme.
    Einen Augenblick frage ich mich, ob ich aus Carmens Leben in ein anderes gestürzt bin. Wo in aller Welt bin ich gelandet? Was mache ich hier?
    Ich versuche mich aufzusetzen und entdecke, dass das Gewicht um meinen Hals eine Art eisernes Halsband ist. Ich taste die Kette mit den Händen ab und stelle fest, dass sie an einem Metallring an der Wand hinter mir befestigt ist. Mir bleibt nur wenig Bewegungsfreiheit, wenn ich mich aufsetze. Und weil meine Haut so verräterisch leuchtet, bleibe ich mit dem Gesicht zur Wand liegen. Ich will die armen Wesen nicht erschrecken, die mit mir hier drin sind. Sie haben schon genug zu erdulden.
    Ich bin fähig, in Gedanken den vollen lateinischen Text aufzusagen, den Mahler vor über hundert Jahren in Musik gesetzt hat, und ich kann alles bis ins Kleinste zurückverfolgen, was ich gemacht habe, seit der St.-Joseph’s-Bus auf dem Parkplatz der Paradise High angehalten hat. Und ich weiß, dass Carmen Zappacosta und ich noch nicht fertig miteinander sind. Alle Einzelheiten sind mir noch gegenwärtig. Klar und scharf und sofort abrufbar. Also, wo bin ich dann hier?
    Ryan!, denke ich plötzlich, und mein Atem beschleunigt sich. Wir wollten uns treffen. Was wird er jetzt denken? Es ist, als wäre ich auf dem Weg von der Schule zu seinem Haus in einen Kaninchenbau gefallen wie Alice im Wunderland.
    Ich taste im Dunkeln meinen Körper ab und identifiziere die Jeansjacke, die ich heute Morgen über das Kapuzenshirt gezogen habe, und Carmens knallenge Kinderjeans. Die schmutzigen Stoff-Sneaker. Carmens Tasche ist weg, genau wie ihr Glitzi-geldbeutel, ihr pinkfarbenes Handy und ihre Noten, aber die kann ich sowieso längst auswendig. Der Verlust irdischer Besitztümer ist momentan mein geringstes Problem. Ich spähe rasch durch das Haar, das mir über die rechte Schulter hängt. Scheint auch noch dasselbe zu sein. Lockig. Lang. Dicht. Fast zu schwer für meinen Kopf.
    Durch meinen wilden Lockenvorhang kann ich zwei Gestalten auf verschiedenen Seiten des Raums in der Dunkelheit ausmachen, beide mit langem, glattem Haar, die eine groß und kräftig, die andere schmal, ein Vogelmädchen. Die Größere zittert merklich, als ob sie unter akuter Unterkühlung leiden würde. Die Kleinere ist still und reglos wie eine Statue. Obwohl ich ihre Züge in diesem stockdunklen Raum normalerweise nicht erkennen dürfte, sehe ich sie so klar, als schiene die Sonne über unseren Köpfen.
    Ich weiß sofort, wer sie sind. Ich kann auch die Konturen des Raums ausmachen, der völlig kahl ist, außer einer Treppe, die in der gegenüberliegenden Ecke beginnt. Wie die Treppe in Ryans Traum. Ich habe den Raum schon einmal gesehen, und auch die Gesichter.
    „Man gewöhnt sich dran“, sagt das Vogelmädchen leise. Ihre Stimme ist trocken wie dürres Laub und klingt ein bisschen eingerostet, als hätte sie in letzter Zeit nicht viel gesprochen. Oder höchstens geschrien.
    Ich versuche im Geist die Umrisse der kleineren Gestalt mit den Fotos von Laurens Kommode zu vergleichen. Das Mädchen sieht völlig gebrochen und ausgemergelt aus, von Schönheit keine Spur mehr. Ihr aschblondes Haar kommt mir weiß vor, selbst in diesem Licht.
    „Lauren?“, frage ich mit gequetschter Stimme, obwohl ich die Antwort kenne. Der Gestank ist so bestialisch, dass ich nicht mehr klar denken kann und mir der Atem stockt.
    „Und du? Wer bist du?“, fragt das Vogelmädchen zurück. Seine Stimme klingt dünn und gleichgültig.
    „Kümmere dich nicht um sie“, fleht die größere Gestalt, Jennifer. „Ihr ist es offenbar egal, ob wir hier jemals rauskommen. Weiß sonst jemand, dass wir hier unten sind? Bitte sag Ja.“ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Wispern, aber sie könnte genauso gut schreien, so viel Angst liegt in den Pausen zwischen ihren Worten.
    „Ja, ihr Bruder“, sage ich und hoffe, dass meine Stimme beruhigend klingt. „Wir wollten heute Nacht zurückkommen und euch rausholen. Aber auf dem Heimweg von der Paradise High muss irgendwas passiert sein, sodass er nicht aufgetaucht ist. Hast du vielleicht eine Ahnung, was das sein könnte?“
    Ein widerlicher Geschmack würgt mich in der

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