Gefangen
Kehle, irgendwas Chemisches, und plötzlich kommt mir alles hoch und ich muss mich über den Bettrand übergeben. Von wegen: Mir wird nie schlecht! Ich drehe mich wieder zur Wand, keuchend, und warte, dass die ungewohnte Übelkeit nachlässt.
Ryan, denke ich verzweifelt, ich hab sie gefunden. Was soll ich jetzt tun?
Wie ein unbewusstes Echo stößt Lauren laut hervor: „Ryan?“, und dann fängt sie an zu weinen.
Das ist wie ein Dammbruch und mir läuft es eiskalt über den Rücken. Lauren hört sich kaum menschlich an, mehr wie ein verwundetes Tier, und Jennifer auf der anderen Seite des Raums rutscht auf einmal unbehaglich auf ihrem Metallbett hin und her.
Dann hämmert jemand an die Tür über uns, oben an der Treppe, und Laurens Schluchzen verstummt so abrupt, als hätte sie jemand erwürgt.
„Muss ich runterkommen und dir wieder wehtun, Lauren?“, bellt eine Männerstimme, so wutverzerrt, dass ich nicht sagen kann, ob ich sie schon mal gehört habe oder nicht. Lauren stößt ein leises Wimmern aus und legt sich hin. Ihr Bett quietscht und knarzt.
Jennifer und ich halten einen Augenblick den Atem an, dann fangen wir wieder an zu reden, als existierte das andere Mädchen gar nicht, als läge es nicht da, mit dem Gesicht nach unten, starr, und lauschte mit jeder Faser seines Körpers auf unsere Worte.
„Hat er dir auch wehgetan?“, frage ich Jennifer grimmig und werfe einen raschen Blick in ihre Richtung. Das arme Mädchen zittert immer noch wie Espenlaub.
„Nein, nur zu Hause bei meinen Eltern hat er mich ein paarmal geschlagen, bevor er mir die Nadel in den Hals gestochen hat“, flüstert sie. „An mir ist noch alles dran. Aber ich hab solche Angst.“
„Er hatte noch keine Zeit, irgendwas zu machen“, sage ich, „weil er uns beide so kurz hintereinander geschnappt hat. Da muss die Gier mit ihm durchgegangen sein.“
„Bis jetzt will er nur, dass ich singe“, berichtet Jennifer, Verwunderung in der Stimme. „Aber ich glaube fast, er ist ein bissche n … enttäuscht.“
„Das ist gut“, versichere ich ihr. Was auch stimmt. Ich atme auf. Jennifer ist schon fast eine Woche in seiner Gewalt, und bis jetzt hat er nichts von ihr verlangt, als dass sie ein paar Lieder vorträgt. „Das ist super. Du bist okay. Daran musst du dich festhalten.“
„Die Treppe führt nach oben zu einem Zimmer“, fügt Jennifer hinzu, und ihre Stimme wird ein bisschen kräftiger. „Mit einem Klavier drin, einem Stutzflügel, Kerzenhaltern, einem goldenen Notenständer und einem Lehnsessel. Sieht aus wie ein Vortragsraum. Er hält alles blitzsauber. Dorthin bringt er mich manchmal. Ab und zu nimmt er auch sie stattdessen.“
Ich schaue rasch zu Jennifer hinüber. Sie nickt im Dunkeln mit dem Kopf in Laurens Richtung, ohne daran zu denken, dass ich ihre Bewegung im Dunkeln gar nicht sehen dürfte. Aber natürlich sehe ich sie trotzde m – ich leuchte ja.
Ich höre, wie das andere Mädchen scharf die Luft einzieht. Zwinge mich, sie noch eine Weile in Ruhe zu lassen, obwohl ich so viele Fragen habe. Lauren ist noch nicht fähig zu reden. Vielleicht wird sie es nie sein.
„Dann schaut er dich nur einfach an“, wiederhole ich in Jennifers Richtung, „wenn er dich singen lässt?“
„Er sagt, er sei von mir besessen, schon immer, aber ich hätte mich verändert. Ich sei nicht mehr das Mädchen, an das er sich erinnerte. Ich hätte seine Erinnerung an mich beschmutzt, behauptet er, obwohl meine Stimme kräftiger sei, besser als früher. In zwei Jahren könne sich viel verändern.“ Jennifers kräftige, ausdrucksvolle Stimme wird brüchig. Sie sprudelt die Worte so schnell hervor, dass ich kaum mitkomme. „Er sagt, ich sei von hier weggezogen, bevor er zum Zug gekommen sei. Er habe zu lange gezögert, aber seither immer auf mich gewartet. Und sobald ich zurückgekommen se i … Ich hätte ihm die Tür nicht aufmachen dürfen! Ich war nur einfach nicht drauf gefasst, dass er so spät bei uns auftaucht. Außerdem war ich früher total verknallt in ihn. Das kam alles wieder in mir hoch, natürlich genau im falschen Moment. Aber ich wusste ja nicht, dass e r … dass er ein Perverser ist. Ich hab nicht nachgedacht. Es hat mir irgendwie geschmeichelt, dass er sich an mich erinnerte.“ Jennifer klingt, als wäre sie total angewidert von sich selbst.
Ich runzle im Dunkeln die Stirn. Verknallt? Geschmeichelt? Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Lauren sich plötzlich aufrichtet und mit zitternden Fingern ihr
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