Gefangene deiner Dunkelheit
wurden sichtlich blasser, und die Geräusche des Regenwaldes verstummten, bis absolute Stille ihn umgab. Merkwürdigerweise war sein Geruchssinn jetzt sogar noch ausgeprägter, genau wie sein Gehör. Er konnte nicht nur die Tiere ringsum bestimmen, sondern auch ihren genauen Aufenthaltsort wahrnehmen. Er brauchte dafür nicht erst seine geistigen Fühler auszustrecken; seine Nase und seine Ohren übermittelten ihm die Information. Je länger er im Schattenreich verweilte, desto schärfer wurden seine Sinne. Nur seine Sicht war irgendwie anders, etwa so, als nähme er die Gestalt eines Tieres an, aber trotzdem konnte er noch immer sofort jede Bewegung sehen. Ihm gefiel nur nicht das Graue in den Farben, weil es ihn zu sehr an die Jahrhunderte der Dunkelheit erinnerte.
Er ergriff MaryAnns Hand und umklammerte sie ganz fest. Seit er Luiz unter die Erde gebracht hatte, war ihm undeutlich bewusst gewesen, dass das Reich der Finsternis und Schatten sich in seinen Geist und seine Sicht einschlich, doch es war so weit entfernt gewesen, als hätte er sich viel mehr der Welt genähert, in der sich Mary-Ann aufhielt. Jetzt, ohne die geistige Verbindung zwischen ihnen, verschlang das Grau wieder die Farbe.
Manolito drückte beruhigend ihre Hand, obwohl er sich gar nicht sicher war, wer hier eigentlich wen beruhigte. »Du bist hier bei mir sicher. Was immer du auch befürchtest, sag es mir. Geteilte Bürden sind leichter zu tragen, MaryAnn.«
Da er sich im Augenblick jeder noch so kleinen Einzelheit von ihr bewusst war, bemerkte er auch ihre große Angst, hörte ihr Herz und sah das wilde Pochen ihres Pulses. Sie hatte darauf bestanden, ihm beizustehen, und sich geweigert, ihn allein im Reich der Finsternis zurückzulassen, obwohl sie sich nicht einmal seiner sicher gewesen war. Er wollte ihr zeigen, dass er für sie nicht weniger tun würde.
Sie schüttelte den Kopf, als sie zu sprechen begann, als wollte sie sich nicht an den Zwischenfall erinnern oder darüber reden. Doch sie schien auch jemanden zu brauchen, der wusste, dass sie nicht verrückt war. »Es gab eine Zeit – ich war damals auf der High-school –, wo ich mit dem Laufen anfing. Meinen Eltern lag sehr viel daran, dass ich Sport betrieb, aber ich hatte kein Interesse. Ich war schon immer mehr ein Girlie-Typ, doch mein Dad dachte, wenn ich mit Sport anfinge, wären mir die neuesten Modetrends vielleicht nicht mehr so wichtig.«
Manolito schwieg, beobachtete die Schatten, die über ihr Gesicht glitten, und wartete darauf, dass sie sich entschloss, ihm die ganze Geschichte zu erzählen und nicht nur eine abgemilderte Version.
»Ich ging also zum Training und begann zu laufen. Zuerst konnte ich nur daran denken, dass ich stolpern, hinfallen oder mich total blamieren würde. Aber dann vergaß ich mich und wie unbequem das Laufen war, und plötzlich fühlte ich mich .. .frei.« Sie atmete hörbar aus, als sie sich an das Gefühl erinnerte. »Mir war gar nicht bewusst, was ich tat, doch ich überholte alle und rannte und rannte, ohne nachzudenken. Ich verspürte überhaupt keinen Schmerz mehr, nur noch eine unglaubliche Euphorie.«
Manolito zog ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Fingerspitzen. »Sprich weiter, sivamet. Was hast du sonst noch empfunden? Denn das hat ja offensichtlich einen starken Eindruck bei dir hinterlassen.«
»Zuerst war es wunderbar, aber dann begann ich, ganz eigenartige Dinge zu bemerken.« Sie entzog ihm ihre Hand, als könnte sie ihm nicht ihr Herz ausschütten, solange sie ihn berührte. »Meine Knochen fingen an wehzutun, meine Gelenke knackten und knirschten, sogar meine Fingerknöchel schmerzten.« Sie rieb sie, als erinnerte sie sich noch gut an das Gefühl. »Mein Kiefer pochte, und mir war, als würde ich immer länger und dünner. Ich konnte Sehnen und Bänder schnappen hören. Ich rannte so schnell, dass ich alles um mich herum nur ganz verschwommen sah. Meine Sicht veränderte sich, mein Gehör- und Geruchssinn waren so geschärft, dass ich wusste, wo sich jeder einzelne Läufer hinter mir befand. Ich kannte die genaue Stelle, wo sie waren, und ohne hinzusehen. Ich konnte ihr Atmen hören, die Luft, die sie in ihre Lungen einsogen und wieder ausstießen. Und ich konnte auch ihren Schweiß riechen und ihre Herzen schlagen hören.«
Wie sollte sie ihm erklären, was an jenem Tag geschehen war? Wie sie gespürt hatte, dass sich in ihr etwas veränderte, das wuchs und wuchs und versuchte, aus ihr herauszukommen, um erkannt
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