Gefangene deiner Dunkelheit
jüngere Schwester war von Männern der Jaguar-Spezies gefangen genommen und brutal misshandelt worden. MaryAnn umklammerte die Pfefferspraydose noch fester. Sie würde nie allein aus dem Dschungel herausfinden, und sie hatte furchtbare Angst davor, allein zu sein, aber sie konnte Manolito nicht verlassen, schon gar nicht, seit sie wusste, dass irgendetwas mit ihm war, und sie hatte Angst, diesem Fremden zu vertrauen.
»Ich bin Luiz«, sagte er, da er ihr Unbehagen zu durchschauen schien. »Manolito hat mir heute einen großen Dienst erwiesen. Ich revanchiere mich nur dafür.«
»Er soll nicht zurückkommen und feststellen müssen, dass ich nicht mehr da bin. Er würde sich Sorgen machen.« Die einzige Person hier – ob menschlich oder nicht – sollte sie nicht allein lassen, das wollte sie nicht. MaryAnn ertrug es nicht, die tote Schlange anzusehen. Sie hatte ihr nichts Böses gewünscht, doch sie wollte natürlich auch nicht in diesem Urwald sterben. Und von einer Anakonda verschlungen zu werden, stand ganz unten auf der Liste der von ihr bevorzugten Todesarten.
»Karpatianische Männer machen sich um sehr wenig Sorgen«, sagte Luiz. »Also kommen Sie mit mir. Sie können hier nicht allein zurückbleiben. Wenn Sie wollen, können Sie das Messer halten.«
MaryAnn seufzte. Um das Messer zu halten, musste sie nahe genug an ihn herantreten, damit er es ihr übergeben konnte. Aber es bedeutete auch, dass sie ihn vielleicht wirklich damit verletzen würde, falls er eine falsche Bewegung machte, und dieser Gedanke war ihr mehr als nur zuwider. »Behalten Sie es.« Sie hatte ihr Pfefferspray, bei dem sie keinerlei Bedenken haben würde, es zu benutzen.
Er lächelte sie an. »Sie sind eine sehr tapfere Frau.«
Es gelang ihr, sich ein kurzes Lachen abzuringen. »Ich zittere bis in meine Lieblingsstiefel. Tapfer ist nicht das Wort, das ich benutzen würde. Ich würde eher sagen: dumm. Ich wäre in meinem sicheren Zuhause in Seattle, wenn ich nicht wieder so ein Idiot gewesen wäre, der glaubt, die Welt retten zu müssen.«
Er schickte sich an, einen fast nicht erkennbaren Pfad hinabzugehen. MaryAnn konnte sehen, dass der Weg von einem Tier benutzt worden war. Nach einem tiefen Atemzug folgte sie Luiz und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass Manolito sie bald finden möge. Wenn sie Riordan und Juliette erreichte, würden sie Manolito vielleicht wiederfinden und ihm helfen können.
Luiz sah sich nach ihr um. »Können Sie mit Ihrem abgebrochenen Stiefelabsatz laufen? Ich kann die Absätze auch entfernen, wenn Sie wollen.«
Oh Gott, was für ein Sakrileg! Er hatte sie zwar vor der Schlange gerettet, doch allein für die Idee, die Absätze ihrer Lieblingsstiefel abzutrennen, hätte er eine Dosis Pfefferspray verdient. »Nein, danke.« Sie blieb höflich, weil der Mann ein bisschen verrückt sein musste, um eine solche Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
Schweigend gingen sie ein paar Minuten weiter, in denen sich MaryAnn bemühte, ihre Gedanken nicht immer wieder zu Manolito abschweifen zu lassen. Aber das war schwierig. Ein Teil von ihr wollte zurücklaufen zu der Stelle, an der sie ihn verlassen hatte, und dort warten, bis er wiederkam. Ein anderer Teil von ihr war wütend, dass er sie verlassen hatte, und wieder ein anderer Teil – der größte –, hatte wahnsinnige Angst um ihn.
»Warum verfolgen uns die Laubfrösche?«, fragte Luiz.
»Laubfrösche?« MaryAnn biss sich auf die Lippe und hoffte, dass der Jaguarmann sich irrte, als sie sich verstohlen umsah. »Ich weiß es nicht.« Aber er hatte recht. Kleine grüne Frösche sprangen hinter ihnen von Ast zu Ast, von Baum zu Baum.
»Sie scheinen Ihnen zu folgen.«
»Glauben Sie?« Sie versuchte, ihrer Stimme selbst dann noch einen unschuldigen Klang zu verleihen, als sie die Frösche anzischte und ihre Arme schwenkte, um sie zu vertreiben. »Sie müssen sich irren. Wahrscheinlich ziehen sie bloß in die gleiche Richtung ab wie wir.« Wanderten Frösche überhaupt? Regenwaldgeschöpfe waren kompliziert. MaryAnn warf den schillernd grünen Amphibien einen ärgerlichen Blick zu, aber sie hüpften munter weiter neben ihr.
»Sie ziehen sie in Scharen an.« Er klang amüsiert, als er das Unterholz zur Seite schob, um sie ungehindert hindurchtreten zu lassen. MaryAnn entging nicht, dass er immer wieder witternd seinen Kopf hob.
»Vielleicht lockt mein Parfum sie an.« Versteht ihr nicht, was ›Verschwindet!‹ heißt? Ihr lasst mich ganz schön
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