Gefangene deiner Dunkelheit
war sie wie gelähmt und konnte nur wie hypnotisiert zu dem Ding hinaufstarren. Ein harter Ruck an ihrem Knöchel brachte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Zähne bohrten sich durch ihren Stiefel und in ihre Haut. Sie schnappte entsetzt nach Luft, versuchte instinktiv, ihren Fuß aus dem Wasser herauszuziehen, doch eine Schlange mit einem sehr breiten Kopf hielt sie gepackt, während ihr langer, dicker Körper sich an ihrem Bein heraufwand und jede Flucht verhinderte.
MaryAnn schrie. Es war pures Entsetzen, ein Reflex, den sie einfach nicht verhindern konnte. Nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen war sie je von einer hundert Pfund schweren Anakonda angegriffen worden. Fieberhaft versuchte sie, den Kopf der Schlange zu erreichen, in der Hoffnung, mit dem Pfefferspray vielleicht noch eine Chance zu haben, doch die Schlange schien endlos zu sein, ohne einen Kopf und Schwanz. Schon jetzt konnte MaryAnn ihre Knochen knacken fühlen. Sie war der Panik nahe, und tief in ihrem Innersten begann sich wieder die Wildheit zu entfesseln, die sie sonst immer so sorgfältig unter Kontrolle hielt.
»Halten Sie still! Wehren Sie sich nicht!«, ertönte ein scharfer Befehl von einer ihr fremden Stimme.
MaryAnn umklammerte das Pfefferspray und zwang sich, den Kampf aufzugeben. Eine Hand mit einem gefährlich aussehenden Messer kam in Sicht. Schmerz durchzuckte sie, als sich die Zähne der Schlange noch tiefer in ihren Knöchel bohrten. Anakondas zerfetzten das Fleisch ihrer Opfer nicht, aber sie hielten sie fest und zermalmten sie mit ihrem muskulösen Körper, und diese hier gab nicht leicht auf.
MaryAnn sah die Hand vor- und zurückschnellen. Die Schlange erschlaffte, und MaryAnn krabbelte aus dem Wasser, wobei ihr Fuß umschlug und ihr Absatz abbrach, als sie vor der Schlange davon-rannte. Schließlich hielt sie sich an einem Baum fest, schlang keuchend die Arme um seinen dicken Stamm und rang nach Atem, um ihre Panik zu bekämpfen.
»Was tun Sie hier? Haben Sie sich verirrt?«
Sie drehte sich um und sah einen Mann, der in aller Ruhe eine Jeans aus einem kleinen Päckchen um seinen Nacken zog. Er war splitterfasernackt. Sein Körper war kräftig, muskulös, mit Narben hier und dort. MaryAnn biss sich auf die Lippe und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Das könnte man sagen.« Als Mann war er sehr gut gebaut. Er hatte ein markantes Gesicht, und obwohl er inzwischen in seine Jeans geschlüpft war, konnte sie sehen, dass er von der Natur gut ausgestattet war. »Laufen Sie immer nackt im Regenwald herum?«
»Manchmal«, gab er zu, während er sie und das Pfefferspray in ihrer Hand mit ernstem Blick betrachtete. »Ich rate Ihnen, sich von Flüssen und Wasserläufen fernzuhalten. Anakondas, Jaguare und andere Raubtiere streifen dort herum.«
»Danke für den Tipp. Das muss ich wohl irgendwie übersehen haben. Diese Schlangen sind aber nicht giftig, oder? Weil sie mich gebissen hat, verstehen Sie?«
»Nein, die Gefahr ist nur, dass sich die Wunde infiziert. Lassen Sie mich mal sehen.«
MaryAnn sog scharf den Atem ein, weil sich alles in ihr dagegen auflehnte, sich von diesem Mann berühren zu lassen. Deshalb schüttelte sie den Kopf und trat zurück. »Danke, aber das ist nicht nötig. Ich habe eine antibiotische Creme, mit der ich das behandeln kann.«
Er sah ihr lange prüfend ins Gesicht, genauso misstrauisch, wie sie es war. »Diese Insel ist Privatbesitz. Wer hat Sie hierhergebracht?«
»Ich wohne bei den De La Cruz'. Manolito ist irgendwo ganz in der Nähe.« Er sollte nicht glauben, sie sei allein.
Seine Brauen fuhren in die Höhe. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Sie hier allein gelassen hat – und wenn auch nur für eine Minute.«
Der besorgte Tonfall seiner Stimme beruhigte sie ein wenig. »Sie kennen Manolito?«
»Ich bin ihm heute Nachmittag begegnet. Die Abenddämmerung nähert sich, und viele Tiere jagen um diese Zeit an den Flüs sen und Wasserläufen. Erlauben Sie mir, Sie zum Haus zurückzubringen. Manolito wird nachkommen, sobald er kann.«
MaryAnn suchte die Schatten nach dem Karpatianer ab. Sie konnte weder an sein Bewusstsein rühren noch ihn fühlen, geschweige denn ihn sehen. Wo bist du? Ich will dich nicht allein lassen. Sie suchte die telepathische Verbindung zu ihm, fand jedoch nur eine schwarze Leere.
Wenn ihr Retter nackt im Dschungel herumlief und Manolito vorher schon begegnet war, war es sehr gut möglich, dass er ein Jaguarmensch war. Juliettes
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