Gefangene der Flammen
Annabel auf, vor sich hin zu murmeln, und marschierte nur noch schweigend hinter Jubal her.
Das Gewisper in ihren Köpfen hatte etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang begonnen. Die verblassende Sonne hatte Schatten auf den Regenwald geworfen und das Aussehen der Pflanzen zu monströsen Gebilden verändert. Riley konnte bei den anderen die Wirkung des unaufhörlichen Summens in ihren Köpfen sehen. Bei ihr war das Geräusch verblasst und in den Hintergrund gerückt, aber sogar ihre Mutter hatte protestiert, als es begonnen hatte.
Vielleicht wegen der Gefahr, die jemandem drohte, den sie liebte, schienen Rileys Sinne und das Bewusstsein ihrer Umgebung sich bei jedem ihrer Schritte zu verschärfen. Sie sah plötzlich Dinge, die sie noch nie zuvor bemerkt hatte: einzelne Blätter. Die Art, wie Moos und Farn wuchsen und die Blumen sich an den Baumstämmen zum Himmel hinaufwanden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie vollkommen fasziniert vom Wachstum der Pflanzen. Sie konnte die Lebenskraft der Erde hören, ein rhythmisches Pochen, das fast vollständig dieses leise, bedeutungslose Gewisper auslöschte, das sich Einlass in ihren Kopf zu verschaffen versuchte. Als die Dunkelheit sich über den Wald legte, war Riley die Pflanzenwelt für eine kleine Weile ein wenig beängstigend erschienen, doch jetzt war sie von exquisiter Schönheit und sogar beruhigend.
Die Farben des Regenwaldes schienen viel lebhafter zu sein als sonst, und sogar als es ganz dunkel wurde, krochen noch Blumen an den Baumstämmen hinauf und sprossen aus dem Boden. Feuchtigkeit tropfte aus dem Blätterdach, deren Geräusch jedoch eher angenehm als irritierend war. Riley hatte das Gefühl, als würde der Boden, auf dem sie ging, sie zum ersten Mal erkennen und ihr zu verstehen geben, dass er sie akzeptierte. Die Feindseligkeit, die ihr entgegenschlug, kam von einer anderen Quelle, irgendeiner hintergründigen Kraft, die sie noch nicht bestimmen konnte, aber wie eine Krankheit durch den Dschungel geistern fühlte.
Hinter ihr murmelte der Träger namens Capa etwas in seiner eigenen Sprache und hieb nach den Schlingpflanzen und den Blumen, die aus dem Boden schossen, wo immer Annabel vorbeiging. Riley achtete darauf, sich dicht bei ihrer Mutter zu halten und in ihre Fußspuren zu treten, damit der Träger nicht sagen konnte, ob die aus dem Dickicht hervorsprießenden Pflanzen nicht schon vorher da gewesen waren.
Annabel blickte sich über die Schulter nach Riley um und sah wieder sehr erschöpft aus. »Ich hab dich lieb«, formte sie mit den Lippen und schenkte ihrer Tochter ein kleines Lächeln.
Riley wurde von einer Flut von Liebe überwältigt und warf ihrer Mutter eine Kusshand zu.
Über ihnen kreischten plötzlich Affen los, und ein ohrenbetäubender Lärm brach im Regenwald aus. Die Affen folgten jeder ihrer Bewegungen, rannten an den Ästen über ihnen entlang und warfen Zweige und Blätter auf sie herab. Einige schwenkten sogar drohend abgebrochene Zweige und bleckten die Zähne – ein weiteres neues Phänomen für Riley. Ihrer Erfahrung nach hielten Affen und andere wilde Tiere Abstand zu den Menschen.
Ohne jede Vorwarnung landete etwas auf Rileys Rücken und stieß sie zu Boden. Scharfe Krallen ergriffen ihre Schultern und zerkratzten ihren Rucksack. Immer wieder wurde sie getroffen, als noch mehr Affen aus den Bäumen sprangen und sie mit ihrem vereinten Gewicht umwarfen. Sie hörte Annabel schreien und Jubal fluchen. Der laute Singsang, den Capa anstimmte, übertönte sogar das Kreischen der Affen.
»Hän kalma, emni hän ku köd alte. Tappatak naman. Tappatak naman.«
Riley schrie verzweifelt nach Gary und Jubal und versuchte, die Affen abzuwehren und gleichzeitig die Glock herauszuziehen.
KAPITEL FÜNF
R iley wand sich unter dem Haufen Wollaffen hervor, richtete sich auf ein Knie auf und packte die Waffe mit beiden Händen, um sie ruhiger zu halten. Sie konnte überhaupt nichts sehen. Dutzende von grauen und olivfarbenen, rotbraunen und schwarzen Affen befanden sich zwischen ihr und Annabel. Diejenigen, die auf ihre Mutter gesprungen waren, hatten sie ins dichte Unterholz gedrängt, und das Einzige, was Riley sehen konnte, waren die pelzigen Körper, die in eine Art kreischende Raserei verfallen waren. Sie wagte nicht, auf sie zu schießen, um nicht versehentlich Annabel zu treffen.
Ihre Mutter schrie wieder auf, und der angsterfüllte Ton echote durch Rileys Kopf. Sie rappelte sich auf, nur um von einer weiteren Welle von Primaten
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