Gefangene der Sehnsucht
Frühlingssonne zeichnete eine Schwelle aus Licht vor den Stall. »Und was ist mit mir?«
Schweigen, dann sagte Angus: »Du wirst vermutlich das tun, von dem du meinst, es ist das Richtige. Ich verstehe nur nicht, wie es das Richtige sein kann, ihn allein zu lassen, um zu sterben. Und was wird aus dem Mädchen?«
Ry holte tief Luft.
»Ich weiß nicht, was er ohne dich tun wird, Ry.«
»Ich soll ihm also dabei zusehen, wie er stirbt?«
Er hörte, dass Angus seinen massigen Körper bewegte. »Nun, Ry, ich weiß nicht, was mit dir ist, aber ich habe nicht vor, ihn sterben zu lassen. Ganz egal, wie versessen er auch darauf ist.«
Einen Moment lang schwiegen sie. Dann wandte sich Ry an ihn. »Everoot ist zwei Tagesritte entfernt.«
»Mit frischen Pferden weniger.«
»Zuerst zum Doktor. Das zumindest hat er verdient.«
»Aber dann schnell, Ry«, sagte Angus, während sie den Stall verließen. »Jamie sah schrecklich entschlossen aus, und wie mir zu Ohren gekommen ist, versteigert der König Grafschaften.«
Jamie führte Eva in ein unbenutztes Schlafzimmer – trotz der vielen Besucher gab es noch viele. Im Wohnturm fand sich eine Kammer neben der anderen, und auch in den Wachttürmen gab es etliche Räume. Er öffnete einfach die Tür zu einem der am weitesten abgelegenen Zimmer, wies dann zwei Diener an, Bettzeug und Kleider und ein Kohlenbecken in das »Schlafgemach der verwitweten Countess of Misselthwaite« zu bringen, die soeben alles verloren hatte, als ihr Gepäckkarren in der reißenden Flut des Wash stecken geblieben war, und warum in des Königs Namen war das nicht schon längst geschehen?
Die Diener starrten diesen unbekannten, zornigen Edelmann, der sie wegen etwas anfuhr, was sie offensichtlich hätten wissen müssen, aus großen Augen an. Dann schossen sie davon, den Korridor hinunter, und sehr bald schon waren sie mit all den verlangten Dingen und einigen zusätzlichen zurück, wie zum Beispiel mit Kerzen und einem Teller mit Speisen und einem Spiegel aus poliertem Metall.
Eva hielt sich den Spiegel vor das Gesicht, während die Zofe sich unter Jamies Stirnrunzeln beeilte, das Bad mit den duftenden Kräutern zu bereiten, dann verließ sie rasch das Zimmer. Eva stach mit der Fingerkuppe in ihre Wange, während sie noch immer in den Spiegel schaute. Sie neigte den Kopf zur Seite und spähte auf ihr Profil. Blass, dünn, entschlossen. Dies waren die Dinge, die sie in ihrem Gesicht sehen konnte. Sie durfte Jamie nicht zu genau ansehen, sonst hätte er das Letztgenannte auch bemerkt.
Sie legte den Spiegel aus der Hand. »Das hast du alles sehr gut gemacht«, sagte sie sanft, während sie im Zimmer herumging.
»Du wirst für eine Weile hierbleiben.«
Sie berührte das Bett. »Das klingt wie eine Drohung.«
»Es ist ein Befehl, Eva.«
Sie strich mit der Handfläche über die Bettvorhänge, die eilig hochgebunden worden waren.
»Du wirst hier warten. Ich werde alles regeln.«
Sie schaute aus dem Fenster; es ging hinaus auf den inneren Burghof. Sie zog den Kopf wieder herein und wandte sich Jamie zu. »Misselthwaite?«
Er schüttelte den Kopf mit einem müden Lächeln.
»Ich denke, das ist ein sehr klangvoller Name. Vielleicht wird unser kleines Haus Misselthwaite heißen.«
Er griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich. »Roger wird es gut gehen«, murmelte er an ihren Lippen. »Ich werde dafür sorgen.«
Sie erwiderte nichts, weil Jamie für solche Dinge nicht sorgen konnte. Er mit seinem edlen Herzen würde es versuchen, natürlich, und würde danach tot sein. Da er Anspruch auf eine Grafschaft zu erheben hatte, war dies offensichtlich nicht vernünftig. Opfer mussten gebracht werden, aber es würden nicht Jamies Opfer sein. Auch nicht Rogers.
Es würden Evas Opfer sein.
Jamie hatte seine Arme um sie geschlungen. Es war etwas, was sie nicht beschreiben konnte, diese Bewusstheit, dass dieser gute Mann sie wollte, also versuchte sie es auch nicht. Sie schmiegte die Wange an seine Brust, und sie hielten einander fest, atmeten im Gleichklang. Sie spürte, wie ihr Herz sich weitete. Sie konnte fühlen, wie es ihre Brust ausfüllte, bis hinunter zu ihrem Schoß. Wie es sie mit Jamie füllte. Sie fühlte sich, als sei sie ein einziges schlagendes Herz.
Das war eine viel bessere Art zu verlöschen, als sie es sich je ausgemalt hatte. Und in zehn Jahren hatte man sehr viel Zeit, sich sehr viele unerfreuliche Arten auszudenken.
Sie beide hörten es – die Ankunft des Königs und seiner Entourage.
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