Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
zerbrochenen Hals der Wasserflasche die Hälfte des Getränks in den trockenen Fels versickert war. Der Sonnenstern war weitere zwölf Grad gewandert, als sie den letzten Tropfen trank und die Flasche fortwarf. Die Sonne stand sechsunddreißig Grad am Himmel, als sie die letzte Handvoll Hirse aß. Ein klebriger, trockener Geschmack im Mund verstärkte ihren ungestillten Hunger noch. Die Sterne wanderten langsam weiter. Ihr Durst und Hunger nahmen zu, bis sie sich so trocken und leer wie ein Schilfrohr fühlte. Der Sonnenstern stand halb im Zenit, als der Vampir erschien.
Er kam von Nordwesten, wie beim ersten Mal, aber jetzt bemerkte sie ihn schon lange vorher. Anfangs glaubte sie, der Hunger trübe ihren Blick. Aber nein. Sie sah aufmerksamer hin und erkannte schließlich, dass dieser Schatten auf den Sternen, der immer größer wurde, keine Sinnestäuschung war. Er war noch weit entfernt, und sie konnte aus dieser Distanz nur das Schlagen seiner Schwingen und den feinen Glanz seiner Kleidung vor der Dunkelheit des Himmels genau erkennen.
Er näherte sich sehr schnell, so wie beim ersten Mal. Aeriel stand auf, sie zitterte ein wenig. Einen Augenblick kämpfte sie gegen den dringenden Wunsch, fortzulaufen, sich zu verstecken,
solange er sie noch nicht entdeckt hatte. Nein, lasst ihn vorüberfliegen, betete sie fast. Doch es war zu spät. Jetzt, wo sie in voller Größe aufrecht dastand, war sie nicht zu übersehen. Und der Vampir flog direkt auf sie zu.
Mit beiden Händen hielt sie das Messer vor sich. Er ließ sich auf einem Felsenvorsprung nieder, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Sie spürte die wirbelnde Luft seiner Schwingen und schauderte, blieb aber tapfer stehen. Seine Schwingen ruhten jetzt, waren jedoch noch ausgebreitet. Nun faltete und ordnete er sie so, dass sie seine Gestalt nur wenig und sein Gesicht gar nicht sehen konnte.
»Du hast auf mich gewartet«, sagte er. Seine Stimme war überraschenderweise ruhig, klar und wohlklingend, wie der Ton einer tiefen Glocke. Die dünne Luft schien sie überhaupt nicht zu beeinträchtigen.
»Ja«, sagte Aeriel, und ihre Stimme war nurmehr ein stummes Krächzen. Sie fasste sich. »Ja, ich habe auf dich gewartet«, rief sie kühn und laut und konnte jedoch kaum ihre eigenen Worte verstehen.
»Ich wusste, dass du hier sein würdest, wenn ich wiederkomme«, sagte der Engel der Nacht.
»Dann wärst du besser nicht gekommen«, rief sie. Sie fragte sich, welch abscheuliches Geschöpf sich hinter den Schwingen verbarg.
»Willst du mich etwa töten?«, fragte der Vampir mit ruhiger Stimme. Er schüttelte die Schwingen, öffnete sie jedoch nicht.
Hass wallte in Aeriel auf, und sie schrie ihm entgegen: »Ja, du hast Eoduin geraubt, und ich werde dich dafür töten.«
»Ich machte sie zu meiner Braut«, sagte er. »Das bedeutet eine große Ehre.«
»Es bedeutet den Tod!«, stieß Aeriel voller unbändigem Zorn hervor.
Sie hörte, wie der Vampir hinter seinen Flügeln seufzte. »In gewissem Sinne, ja. Aber das ist nur ein geringer Preis.«
»Und wie viele mussten diesen Preis bisher bezahlen, Ikarus?«, fragte sie. »Wie viele Jungfrauen hast du geraubt und zu deinen Bräuten gemacht?«
Der Engel der Nacht schwieg einen Moment, als müsste er nachdenken.
»Ich glaube, es waren zwölf-und-eine in ebenso vielen Jahren«, sagte er und lachte dann. »Ich bin noch ein junger Vampir.«
Aeriel umspannte den Griff ihres langen Messers noch fester und wollte langsam auf ihn zugehen.
»Halt!«, rief er. Seine Stimme klang plötzlich befehlend und ernst. »Du hast weder die Macht dazu noch den Willen.«
Da öffnete er seine Schwingen, und Aeriel konnte sich vor Staunen nicht mehr regen. Vor ihr stand der schönste Jüngling, den sie je gesehen hatte. Seine Haut schimmerte weiß wie das Licht und erstrahlte mit leichtem Glanz. Seine Augen waren so klar und farblos wie Eis; sein Haar war lang und silbern; und um den Hals trug er eine Kette, an der vierzehn kleine bleierne Phiolen hingen.
Er lächelte sie an, ein grausames Lächeln, das selbst in seiner Grausamkeit noch schön war. Aeriel spürte, wie ihre Knie nachgaben. Der Vampir fing sie im Fallen auf, nahm ihr dabei das Messer ab und zog sie kraftvoll an sich. Sein Körper war kälter als
die Nacht, so eisig, dass sie fühlte, wie die Wärme ihres Körpers in seinen strömte, während seine Kälte in sie eindrang. Die Luft um ihn war klirrender Frost und roch schwer und süß wie Nektar. Sie fühlte plötzlich,
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