Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
auf. »Hast du etwas Wasser bei dir, Mädchen? Ach, Holzsammeln macht so durstig.«
Aeriel gab ihr ihre Flasche, und die Alte trank gierig, wischte
sich dann ihren Mund mit ihrem Ärmel ab und reichte Aeriel die leere Flasche zurück. Sie zerrte hilflos an ihrem Bündel, als wäre es plötzlich zu schwer für sie geworden.
»Lass mich nur machen«, sagte Aeriel und klemmte sich das Holz unter den Arm. »Willst du mir die Geschichte erzählen?«
Das verhutzelte Gesicht der Alten erstrahlte in einem Lächeln. »Meine Hütte steht da drüben«, sagte sie. »Komm mit. Ich erzähle dir alles unterwegs.«
Sie humpelte davon, und Aeriel folgte ihr. Grauling streifte vor ihnen durch die Bäume.
»Jetzt ist es fast vier Tagmonate her, seit sich der Vogelmann zum letzten Mal eine Seele holte, aber nicht, weil der Majis ihm keine gegeben hätte. Schon dreimal fand man die seidenen Fesseln zerschnitten vor, und das Opfer war verschwunden.
Deshalb fliegt der Vogelmann nicht fort. Bei jedem Morgengrauen sucht er sich ein neues Quartier auf den Ländereien des Majis. Bisher hat der Vampir noch nie junge und gesunde Opfer verschmäht. Die Vogelpriester sagen, dass ihr Gott erzürnt ist. Der Majis soll ein anderes Opfer anbieten, jemanden, der seinem Herzen nahesteht.«
»Priester?«, flüsterte Aeriel. »Haben sie diesen Vampir zu ihrem Gott gemacht?«
Die Alte zuckte mit den Schultern. »Als ich jung war, beteten wir zu den Gottgleichen, aber sie kümmern sich nicht mehr um unsere Welt. Sie verkommt. Schade, dass sie sie nicht dauerhaft geschaffen haben.« Sie seufzte. »Ich glaube, die Gottgleichen gibt es nicht mehr.«
Aeriel protestierte. »Ravenna ist nicht tot. Sie lebt, sie muss leben. Sie hat versprochen wiederzukommen.«
Die Alte schnalzte mit der Zunge. »Die Luft entschwindet ins Nichts. Es fällt kein Regen mehr. Der Handel wird immer weniger. Nachrichten zwischen den einzelnen Königreichen werden kaum noch ausgetauscht. Die Majises herrschen über uns und machen uns zu Sklaven.« Sie schnalzte wieder mit der Zunge. »Ravenna ist längst überfällig.«
Aeriel schwieg. Die Alte seufzte.
»Selbst der gefleckte Panther, Samalon. Der letzte gute Gott, den wir hatten, ist nicht mehr da.«
»Samalon«, sagte Aeriel. »Sprichst du von Zambulon, dem Wächter dieses Landes?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß von diesen Dingen nichts. Ich war nur ein Kind. Jetzt gibt es in Zambul einen neuen Gott und seine Priester.« Plötzlich lachte sie wieder krächzend. »Ach, die Vogelpriester behaupten, dass sie ihren Gott kennen. Aber sie wissen weniger als ich über ihn.«
»Und warum?« Aeriel verlagerte das Bündel auf ihrer Hüfte. Die spitzen Äste stachen sie.
»Nun«, sagte die alte Frau, »da war ein Mädchen. Ich traf es vor nicht zwei Tagmonaten im Wald, nach Untergang des Sonnensterns. Sie war ganz außer Atem und weinte. Ihre Handgelenke waren verletzt, als hätte man sie festgebunden. Meine Hütte war nicht weit. Ich nahm sie mit dorthin, aber sie wollte nicht bleiben vor lauter Angst.
Sie erzählte mir, dass sie als Sklavin im Haus des Majis gelebt hatte und zum Opfer für den Engel bestimmt worden war. Doch
dann sei ein großes Monster aus dem Wald gekommen, habe ihre Fesseln durchgebissen und sie befreit. Ich hielt sie für verrückt. Dann lief sie fort und reagierte auch nicht auf mein Rufen.
Danach ging ich in meine Hütte und verriegelte die Tür. Und während ich so ganz allein dasaß, musste ich an das Opfer denken, das der Majis den Tagmonat zuvor angeboten hatte und das von dem Engel verschmäht worden war. Und ich fragte mich, ob vielleicht diese graue geflügelte Kreatur, von der das Mädchen gesprochen hatte, die beiden Opfer befreite.«
Dann ging die alte Frau eine Weile schweigend weiter, bis sie den Faden wieder aufnahm.
»Den Tagmonat darauf stieß ich beim Holzsammeln auf seltsame Spuren im Wald, große Pfotenabdrücke, wie ich sie noch nie gesehen hatte, und ich fand zwei riesige graue Federn, größer als jede Vogelfeder. Einmal hörte ich ein seltsames Miauen. Ich war derart darüber erschrocken, dass ich mein Bündel fallen ließ und floh.
Am Nachmittag desselben Tagmonats traf ich einen Reisenden, der mir erzählte, dass der Vampir auch das nächste Opfer abgelehnt habe, so dass der Majis ein drittes Opfer stellen müsse, wenn er nicht sein ganzes Land verbrannt haben wollte. Diesmal war ich lange vor Untergang des Sonnensterns zu Hause und verriegelte meine Tür.
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