Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
Bei Tagesanbruch ging ich dann zu meiner Nachbarin, um Neuigkeiten zu erfahren. Und sie erzählte mir etwas sehr Seltsames.
Sie sagte, dass in der Nähe des Hauses ihrer Tochter ein Junge nachts gestürzt war und sich im Zaun verfangen hatte. Die Tochter eilte ihm mit einer Fackel zu Hilfe und sah, dass er um eines
seiner Handgelenke eine zerfetzte blaue Kordel trug, die durchgebissen und noch ganz nass war. Seine Kleider waren nicht gewöhnlich, sondern von feinstem Schnitt, wie man sie in reichen Häusern trägt.
Sie ging zurück ins Haus, um ihn mit einem Messer loszuschneiden. Aber als sie wiederkam, war der Junge verschwunden.
So erzählte ich also meiner Nachbarin, was ich erlebt hatte und was ich darüber dachte. Dann kehrte ich zu meiner Arbeit zurück, die mir an jenem Tag schlecht von der Hand ging, da ich tief in Gedanken versunken war. Leg das Bündel nur auf die Türschwelle, mein Mädchen. Ich kümmere mich dann schon darum.«
Die beiden waren vor der Hütte der Alten angekommen. Aeriel entledigte sich des Bündels, aber obwohl die Frau ihr Essen und Obdach anbot, wollte Aeriel nicht bleiben. Sie hatte es jetzt eilig, aus Zambul herauszukommen, und nicht die geringste Ahnung, wie weit es noch zur Grenze nach Terrain war.
Dann füllte die alte Frau Aeriels Wasserflasche wieder und schenkte ihr ein Stück Kuchen zum Dank. Aeriel pfiff nach Grauling. Die kleine Sandlanguste knabberte ein Stück Kuchen.
Die Straße wand sich durch ein langgestrecktes breites Tal, und der Wald wich zu beiden Seiten zurück. Die Straße gabelte sich, Aeriel nahm die Abzweigung, die auf einen Hügel führte. Vor ihr lag eine Stadt.
Sie hatte keine Zeit, sie näher zu betrachten, denn hinter
einer Wegbiegung hörte sie Stimmen und Schritte. Die Luft war unbewegt, ohne den leisesten Windhauch. Aeriel hatte ihre Kapuze übergestreift, um ihre Augen gegen die tief stehenden Strahlen der Sonne zu schützen.
Um die Kurve kamen ein paar Offiziale, die von Soldaten begleitet wurden. Aeriel blieb stehen, um sie vorbeizulassen. Niemand schenkte ihr auch nur einen Blick. Hinter der kleinen Gruppe türmte sich eine Staubwolke auf. Der erste Beamte murmelte mehr zu sich als zu dem Mann und der Frau in weißen Gewändern, die ihn begleiteten.
»Mein bester Obstgarten, zwei Felder und eine Wiese – ruiniert. Und das in vier Tagmonaten. Ich kann es mir einfach nicht mehr leisten. Wenn der Dämon dieses Opfer nicht akzeptiert, darf man mich für die Zukunft nicht verantwortlich machen. «
»Der Engel«, korrigierte ihn einer der weiß gekleideten Leute freundlich. »Der Engel, Majis.«
Aeriel hörte nicht mehr, was weiter gesprochen wurde, aber sie hatte zwei Dinge bemerkt: Die Priester trugen Kragen, die mit schwarzen Federn verziert waren, und der Majis spielte während des Gehens nervös mit einem kleinen Schlüssel aus Metall.
Aeriel starrte hinter den immer kleiner werdenden Gestalten her, aber Grauling befreite sich plötzlich aus ihrem Griff und rannte mit großen Sprüngen den Weg hoch. Aeriel pfiff, doch der graue Gargoyle kam nicht zurück. Sie ging ihm nach. Der Weg stieg jetzt steil an.
Hinter einer Biegung kam sie plötzlich zu einem verbrannten Obstgarten, die Blätter und Früchte lagen verkohlt am Boden.
Der Sonnenstern stand nun sehr tief im Osten und warf lange schwarze Schatten. Aeriel hörte erst Schreien, dann Schluchzen.
Grauling lief pfeilschnell durch Licht und Schatten; Aeriel rannte ihm hinterher und wäre fast über ein Mädchen gestolpert. Es war kostbar gekleidet; die Fußspangen um seine Knöchel glänzten. Ein Schleier verhüllte sein Gesicht und ließ nur die Augen frei. Man hatte seine Haut schwarz bemalt, an manchen Stellen leuchtete es hell durch.
Sie hatte so geschrien. Jetzt zerrte sie verzweifelt an einer Kette, mit der sie an einen Baum gefesselt war. Das Metall der Fessel hatte ihr Handgelenk aufgerissen.
Aeriel schlug die Kapuze ihres Reisemantels zurück und ging zu ihr. Das Mädchen fuhr zusammen, wich vor ihr mit einem Schrei zurück und stürzte dann schwer zu Boden.
»Geist«, keuchte das bemalte Mädchen schließlich. »Geist, aus Liebe zu den alten Göttern, hilf mir. Ich muss freikommen, ehe der Sonnenstern untergeht.«
Aeriel legte ihr Bündel und ihren Wanderstab hin und kniete sich neben das Mädchen. Sie nahm die Kette und starrte darauf.
»Ich bin kein Geist«, sagte sie. »Nur eine Reisende. Ich bin deinem Vater auf der Straße begegnet.«
Das bemalte Mädchen
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