Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
zog die Fessel von seiner Hand.
Der Sonnenstern ging unter. Der Himmel wurde zu einem
schwarzen Nichts. Der Obstgarten versank in Schatten. Der Vampir drehte sich um, er war in das geisterhafte Licht von Oceanus und den Sternen getaucht. Nur eine Sekunde sah Aeriel die Gestalt eines jungen Mannes, in fahle Gewänder gehüllt; ein wildes, ausgehungertes Gesicht; farblose, ausdruckslose Augen.
Das bemalte Mädchen schrie und sprang von Aeriel fort. Aeriel wollte ihm folgen, aber der Vampir war schon in der Luft. Der Wind seiner Flügel presste ihre Kleider an ihren Körper. Aeriel warf sich flach auf den Boden und hoffte, dass er sie verfehlte.
Noch im selben Moment änderte sich sein Flügelschlag. Er kreiste nun über ihr in der Luft. Aeriel kam auf die Knie, griff nach ihrem Wanderstab. Der Vampir stieß herab. Aeriel schwang ihren Stab, er traf ins Leere, denn der Sohn der Hexe hatte sich plötzlich zurückgezogen.
Eine Gestalt, nein, zwei Gestalten kamen aus dem Garten gesprungen. Sie setzten über Aeriel hinweg, Grauling verbiss sich im Unterarm des Engels der Nacht. Das andere Tier, grau wie das erste, krallte sich in ein Bein des Vampirs. Sein Rücken war mit zwei Paaren knochiger Schwingen versehen. Um den Hals trug es ein Kupferband.
»Katzenschwinge!«, sagte Aeriel atemlos. »Grauling, Katzenschwinge! «
Das geflügelte Tier grub seine Zähne tief in das Bein des Vampirs. Der Ikarus stieß einen unmenschlichen schrillen Schrei aus und schüttelte seine Angreifer ab. Grauling stürzte, aber Katzenschwinge hob sich in die Luft. Sie verbiss sich in einem Flügel des Engels der Nacht.
Aeriel keuchte, sie rang nach Atem. Grauling kam wieder auf die Füße. Jemand zerrte an ihren Kleidern. Aeriel stand taumelnd auf.
»Flieh! Flieh!«, rief das bemalte Mädchen.
Aeriel lief mit ihm auf die Bäume zu.
Fauchen, Kläffen und vogelähnliche Schreie waren hinter ihnen zu hören.
Plötzlich lag der Obstgarten hinter den beiden. Oceanus verbreitete sein bleiches blaues Licht. Der Gestank von Verbranntem wich. Gierig sog Aeriel die frische Luft ein. Ihr Wanderstab fühlte sich plötzlich leichter an. Sie starrte ihn an und begriff, dass sie ihn und auch ihr Bündel mitgenommen hatte. Der Reiher kreiste hoch über ihnen, in Richtung eines anderen Tals.
»Folgt mir!«, rief er. »Ich finde den sichersten Weg.«
Dann segelte er tiefer, sein Weißes Gefieder schimmerte im fahlen Licht der Nacht.
9
Der Fürst
D er Reiher geleitete sie durch dichten Wald, trockene Abhänge hinab und über schattige Pfade. Noch immer klangen Aeriel die Schreie des Vampirs und das Jaulen der beiden Gargoyles in den Ohren, und sie biss sich vor Sorge um sie auf die Unterlippe. Der Ikarus verfügte über die Kraft, sie mit einem Schlag zu vernichten.
Nachdem sie lange gerannt waren, hörten sie hinter sich einen lauten zornigen Schrei. Der Vampir kreiste über ihnen. Seine fahlen Gewänder glänzten zwischen dem Schwarz seiner Flügel. Aeriel lauschte angestrengt, aber sie konnte die Gargoyles nicht hören. Über den Bäumen spähte der Engel der Nacht nach ihnen. Aeriel und das Mädchen tauchten tiefer ins Dickicht. Dann drehte der Sohn der Hexe mit einem Wutschrei ab, in Richtung Stadt, zum Haus des Majis.
Sie folgten dem Reiher, bis das Mädchen strauchelte. Aeriel blieb im dichten Unterholz stehen. »Reiher«, rief sie. »Wir müssen rasten.«
Der Vogel glitt in einem weiten Bogen auf den Waldboden. »Sterbliche«, murmelte er. »Das hatte ich vergessen.«
Aeriel lehnte sich müde gegen einen Baum. Das bemalte Mädchen sank atemlos und zitternd vor Erschöpfung zu ihren Füßen nieder. Aeriel nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bot sie dann dem Mädchen an, doch es drehte den Kopf weg. Das Blut an ihrem Handgelenk war dunkel und getrocknet. Aeriel wusch es mit ein wenig Wasser aus ihrer Flasche ab. Das Mädchen biss die Zähne zusammen und stieß erstickte kleine Schreie aus.
»Es tut mir leid, dass ich dir Schmerzen zufüge«, sagte Aeriel, »aber ich habe eine Salbe, die dir helfen wird.«
Das bemalte Mädchen schüttelte den Kopf. »Meine Füße«, sagte es schließlich.
Aeriel wusste zuerst nicht, was ihre Gefährtin meinte. Sie legte einen der dunkel bemalten Füße auf ihren Schoß und bürstete den Staub ab. Auf der Sohle entdeckte sie Schnitte und Blut. »Wie konnte das passieren?«, fragte sie. »Ich habe nichts Spitzes gefühlt.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Der Majis zerschnitt mir die
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