Gefangene des Feuers
gegen ihren Entschluss, dass er die Hände zu Fäusten ballen musste, um Annie nicht zu schütteln. Gott bewahre, er würde sie nicht in dieses Lager lassen, sondern wenn nötig auf dem Pferd festbinden und erst wieder freilassen, wenn sie in Juárez waren.
„Ich muss dorthin“, wiederholte sie. Ihre dunklen Augen zogen ihn plötzlich hinab in ihre Seele.
Er wusste nicht, was geschehen war. Und obwohl es töricht war und er sie nicht einmal im Umkreis von einer Meile an dieses Lager heranlassen durfte, gab er nach.
„Dann gehen wir beide.“
Sie berührte sein Gesicht. „Das ist nicht nötig.“
„Ich entscheide, was notwendig ist. Wenn du in dieses Lager reitest, bin ich an deiner Seite. Du kannst mich nur davon abhalten, indem du dich auch fernhältst.“
„Und was ist, wenn es doch Pocken sind?“
„Ich hatte Pocken, als ich fünf war. Kein besonders schwerer Fall, sodass keine Narben zurückgeblieben sind. Also bin ich sehr viel weniger gefährdet als du mit deinen Nadelpik-sern.“
Da er sich offenbar nicht davon abhalten lassen würde, sie zum Lager zu begleiten, war es eine Erleichterung für sie zu wissen, dass er bereits Pocken gehabt hatte. „Du solltest Zurückbleiben. Ich reite erst einmal allein hin, um herauszufinden, was es ist.“
Er schüttelte den Kopf. „Du wirst nicht allein dorthin reiten!“
Sie starrten einander an, einer dickköpfiger als der andere. Aber da er beim ersten Mal nachgegeben hatte, lenkte Annie diesmal ein.
Die Hunde rannten ihnen entgegen und bellten wie rasend, als sie ins Lager ritten. Die zwei kleinen Jungen sahen völlig verschreckt aus und liefen davon. Die alte Frau, die Rafe schon gesehen hatte, kam diesmal aus einer anderen Grashütte. Auch sie humpelte, so schnell es ihr möglich war, davon.
Aber sonst tauchte keine Menschenseele mehr auf.
Das Entsetzen stand Annie ins Gesicht geschrieben. Was würden sie in den Hütten vorfinden? Bilder von aufgedunsenen Leibern, die in schwarzem Erbrochenen lagen, stiegen in ihr auf. Sie wusste, dass es manchmal gar nicht so gut war, zu viel zu wissen, weil ihre Vorstellungskraft all die schrecklichen Symptome vor ihr inneres Auge zaubern konnte.
Sie ritten gleich zum ersten Wickiup, denn es war wohl egal, wo sie anfingen. Rafe zügelte sein Pferd, und sie tat es ihm nach und glitt aus dem Sattel. Sie wollte schon den Vorhang am Eingang Zurückschlagen, als Rafe sie mit festem Griff zurückhielt. Er zog sie hinter sich, ehe er selbst die Abdeckung hob und hineinsah. Zwei Menschen lagen auf den Decken. Sie waren mit Pusteln bedeckt.
„Sieht wie Pocken aus“, erklärte er grimmig. Wenn es tatsächlich stimmte, würden sie hier nur ihre Zeit und Annie ihre Energie verschwenden. Anders als die Weißen, die dieser Krankheit schon Jahrtausende ausgesetzt gewesen waren, waren die Indianer erst durch den Weißen Mann mit der Krankheit in Kontakt gekommen. Sie verfügten über keinerlei Abwehrkräfte.
Annie schlüpfte unter seinem Arm durch, ehe er nach ihr greifen konnte. Sie kniete sich neben eine der reglosen Gestalten, eine Frau, und untersuchte vorsichtig die Flecken auf ihrer Haut. Dann schnüffelte sie in die Luft. „Das sind keine Pocken“, sagte sie versonnen. Pockenkranke sonderten einen bestimmten Geruch ab, der hier jedoch fehlte.
„Was ist es dann?“
Die Flecken auf der Haut der Frau hatten sich schwarz verfärbt. Annie legte ihre Hand auf die Stirn der Kranken. Sie hatte hohes Fieber. Schwarze Augen öffneten sich langsam und starrten sie benommen an.
„Masern“, sagte Annie leise. „Sie haben Masern.“
Auch wenn Masern nicht so tödlich waren wie Pocken, war die Lage doch ernst genug. Denn viele Menschen waren
schon an den Komplikationen gestorben. Sie drehte sich zu Rafe um. „Hast du auch schon Masern gehabt?“
„Ja. Und du?“
„Ich auch.“ Sie verließ die Grashütte und ging von einer zur anderen, um hineinzusehen. In jeder Hütte befanden sich zwei, drei oder vier Menschen, die meisten von ihnen in verschiedenen Stadien der Krankheit. Die alte Frau, die sie zu Anfang gesehen hatten, kauerte in einem der Wickiups. Einige kümmerten sich um die Kranken, anscheinend mit einer solchen Hoffnungslosigkeit, dass sie noch nicht einmal alarmiert aufschreckten, als die beiden fremden Weißen auftauchten. Oder sie befanden sich schon im ersten Stadium der Krankheit und fühlten sich schon zu krank dafür. Die beiden Jungen, die sie gesehen hatten, schienen noch gesund zu sein. Zwei
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