Gefangene des Feuers
Rafe schätzte die Größe der Herde und zog die Brauen zusammen. Wenn dieser Stamm nicht über ungewöhnlich viele Pferde verfügte, mussten die Krieger auch im Lager sein. Aber all das ergab keinen Sinn.
Eine alte, gebeugte Frau mit grauen Haaren humpelte zu einer der Grashütten. Sie trug eine Holzschüssel. Jetzt bemerkte Rafe eine schwarze Stelle, wo eine der kugelförmigen Grashütten verbrannt worden war. In dem Lager musste der Tod Einzug gehalten haben. Dann sah er noch eine schwarze Stelle. Dann noch eine.
Vermutlich gab es noch mehr davon. In dem Lager war offenbar eine Krankheit ausgebrochen.
Er spürte einen Kloß im Hals, als er die verschiedenen Krankheiten durchging. Als Erstes fielen ihm die Pocken ein, die bis jetzt jeden Indianerstamm dezimiert hatten, der damit in Berührung gekommen war. Eine Seuche? Cholera? Es konnte alles Mögliche sein.
Rafe robbte sich zurück von der Anhöhe und ging vorsichtig zu der Stelle, wo er sein Pferd zurückgelassen hatte. Er und Annie würden um dieses Lager einen großen Bogen machen.
Annie wartete genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte, geschützt vor der grellen Sonne durch Felsen und Bäume. Sie döste in der Mittagshitze und fächelte sich mit ihrem Hut Luft zu. Doch als er sich näherte, setzte sie sich sofort auf.
„Etwa fünf Meilen östlich von hier ist ein Apachenlager. Also halten wir uns erst einmal zehn bis fünfzehn Meilen Richtung Süden, dann erst wieder Richtung Osten.“
„Apachen.“ Sie wurde ein wenig blass. Wie jeder im Westen hatte auch sie davon erzählen hören, wie die Apachen ihre Gefangenen quälten.
„Keine Sorge!“, sagte er, um sie zu beruhigen. „Ich habe ihr Lager gesehen. Ich glaube, die meisten von ihnen sind krank. Nur zwei Kinder und eine alte Frau waren draußen zu sehen, und einige der Hütten sind verbrannt worden. Das machen die Apachen immer so, wenn es in der Hütte einen Toten gab. Alle anderen aus der Familie verlassen das Wickiup, dann wird es niedergebrannt.“
„Eine Krankheit?“ Annie spürte, dass sie noch blasser wurde, während sich eine schreckliche Entscheidung vor ihr auftat wie ein Abgrund. Sie war Ärztin. Der Eid, den sie abgelegt hatte, machte keinen Unterschied zwischen weiß, schwarz, gelb oder rot. Ihre Pflicht war es, den Kranken und Verletzten in jeder nur erdenklichen Weise zu helfen. Aber sie hätte nie gedacht, dass ihre Pflicht sie einmal in ein Apachenlager führen könnte, das sie vielleicht nie wieder verlassen würde.
„Vergiss es!“, sagte Rafe scharf, da er ihre Gedanken erraten hatte. „Du gehst da nicht hin! Du kannst sowieso nichts mehr tun. Die Krankheit frisst die Indianer auf. Außerdem weißt du nicht, was es ist. Was willst du tun, wenn es Cholera oder irgendeine Seuche ist?“
„Und wenn nicht?“
„Dann sind es vermutlich Pocken.“
Sie warf ihm ein trockenes Lächeln zu. „Falls du dich erinnerst: Ich bin die Tochter eines Arztes. Ich bin gegen Pocken geimpft. Mein Vater hielt sehr viel von Dr. Jenners Methoden.“
Doch Rafe war sich nicht sicher, ob er auch an Dr. Jenners Impfmethoden glauben sollte, besonders weil es in diesem Fall um Annies Leben ging. „Wir werden nicht dorthin gehen, Annie!“
„Wir gehen da sowieso nicht hin. Warum solltest du dich auch noch der Krankheit dort aussetzen, welche es auch immer sein mag?“
„Nein!“, sagte er entschieden. „Es ist zu gefährlich.“
„Ich bin Ärztin. Glaubst du vielleicht, ich hätte so etwas noch nie gemacht?“
„Aber du warst noch nie bei Apachen.“
„Das stimmt. Aber sie sind krank, das hast du selbst gesagt. Und es sind Kinder im Lager, die vielleicht sterben müssen, wenn ich nichts tue.“
„Falls es Cholera oder eine Seuche ist, kannst du sowieso nichts mehr tun.“
„Und wenn nicht? Ich bin sehr gesund und werde nie krank. Selbst eine Erkältung hatte ich nicht mehr seit ... Ich kann dir nicht einmal sagen, wie lange es her ist.“
„Ich rede nicht von einer Erkältung, verdammt!“ Er umfasste ihr Kinn und hob ihr Gesicht. „Das im Lager ist eine ernste Geschichte. Ich will nicht, dass du dein Leben aufs Spiel setzt!“
Seine Augen wirkten so kalt, dass sie beinahe zitterte, aber sie konnte keinen Rückzieher mehr machen. „Ich muss es tun“, erwiderte sie leise. „Ich kann mir nicht aussuchen, wem ich helfe. Damit würde ich all meine Studien und meinen Eid verhöhnen. Entweder bin ich Ärztin ... oder ich bin es nicht.“ Innerlich wehrte er sich so heftig
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