Gefangene Seele
aber sie entspannte sich wieder, als sie sah, dass er es war.
“Hallo Liebling”, sagte Sam. “Wie geht es dir?”
“Ich weiß nicht so recht”, gab Jade zurück.
“Darf ich mich zu dir setzen?”
Sie nickte.
Er nahm auf dem Fußende des Bettes Platz und drehte sich zu ihr.
“Luke hat dir von Solomon und Frank erzählt, nicht wahr?”, fragte sie.
“Ja, machst du dir darüber Gedanken?”
Sie legte die kleine Decke beiseite, dann lehnte sie sich vor, indem sie die Ellenbogen auf die Knie abstützte.
“Ich bin fertig. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Verstecken und auf der Flucht verbracht. Und jetzt tauchen all die schlimmen Geister von früher auf einen Schlag auf.”
“Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst. Aber ich glaube, es geht über meine Vorstellungskraft, was das alles für dich bedeutet.”
Sie sah auf die Tagesdecke hinab und strich gedankenverloren über die Stickerei.
“Das hast du schon gemacht, als du klein warst”, sagte Sam.
Sie sah auf. “Was habe ich schon gemacht?”
“Dass du immer mit deinen Händen Oberflächen und Formen ertastet hast. Deine Mutter hatte einen Morgenmantel aus hellblauem Chenille, den hast du geliebt. Sie trug ihn meistens, wenn sie dich zu Bett gebracht hat. Du hast immer wieder mit deinen Fingern darübergestrichen.”
Jade lächelte. Auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, war es ein gutes Gefühl, dass sie und Sam eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Aber sie dachte an etwas anderes, als sie sich aufsetzte und ihren Vater ansah – ihn richtig ansah.
“Weißt du was, Daddy? Du siehst sehr gut aus.”
Sam war ein wenig irritiert. “Ja, ach, danke, Liebes.”
“Ich wette, du hattest jede Menge Chancen, noch einmal zu heiraten, oder nicht?”
Dann nahm Sam ihre Hand. Er wusste nicht, dass seine Augen traurig wirkten, auch wenn er versuchte zu lächeln.
“Vielleicht, aber ich habe nie geheiratet, weil ich deine Mutter geliebt habe.”
“Tust du das immer noch?”
Er überlegte, dann runzelte er die Stirn. “Ich liebe die Erinnerungen an die Zeit, als wir zusammen waren. Aber seitdem du wieder da bist, haben sich meine Gefühle für deine Mutter sehr geändert.”
“Das tut mir leid.”
“Das braucht dir nicht leid zu tun”, beruhigte Sam sie. “In all den Jahren habe ich mich mit dem Gedanken getröstet, dass ihr beiden wohlbehalten wart. Oder falls ihr nicht zusammen gelebt habt, dass ihr in ständigem Kontakt miteinander gewesen seid, so wie das Eltern und Kinder sein sollten. Aber was sie getan hat war so … rücksichtslos … und es hat dir so einen unglaublichen Schaden zugefügt. Deswegen kann ich nicht mehr wie vorher an deine Mutter denken.”
Er tätschelte Jade die Hand, um das Gesagte abzuschwächen. “Nach all dem muss ich dir dazu gratulieren, dass du eine so großartige Frau geworden bist. Deine Mutter wäre stolz auf dich. Ich bin stolz auf dich.”
“Oh Daddy, ich wünschte, ich könnte so stolz auf mich sein, wie du es bist.”
“Das kommt noch”, antwortete Sam.
Sie sah ihn kurz an, dann schaute sie weg. Es war lange still, bevor sie endlich wieder etwas sagte.
“In dem Haus, in dem wir zuletzt mit Solomon gelebt hatten, bevor Raphael und ich weggelaufen sind, gab es ein Zimmer, in dem ein großer dreiteiliger Spiegel stand. Solomon hat uns einzeln in das Zimmer geführt, und wir mussten uns nackt vor den Spiegel stellen. Wir durften nicht wegsehen, und wir konnten seiner Stimme nicht entkommen. Und jedes Mal hat er uns eingeredet, dass wir hässlich seien, und dass uns niemand lieb haben würde außer ihm. Das hat er immer wieder wiederholt.”
Jade sah auf und versuchte zu lächeln, als sie weitersprach. “Aber sogar dann wusste ich, dass er nicht recht hatte. Und weißt du auch warum?”
Sam war so erschüttert von ihrer Erzählung, dass er nur den Kopf schütteln konnte.
“Weil es jemanden gab, der mich liebte.”
Sam begriff allmählich. “Raphael.”
Sie nickte. “Ja, Raphael. Mein Rafie. Er war mein Bruder, meine Familie, mein bester Freund. Wir wussten ja nicht, woher wir beide kamen, aber wir haben uns später, als wir älter waren, zusammengereimt, dass er jemand wie ich war … dass seine Mutter der Sekte verfallen war, dann gestorben ist oder einfach die Kommune verlassen hat und ihn zurückließ, ohne sich darum zu kümmern, was aus ihm werden würde. Raphael hatte noch nicht einmal einen Nachnamen. Jedenfalls wusste ich das von mir.”
“Es
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