Gefangene Seele
stand Jade auf und streckte sich. Nachdem sie Lukes Stimme gehört hatte, war all die Anspannung gewichen.
“Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett”, sagte sie. “Darf ich das Buch mit hinaufnehmen?”
“Liebling, alles in diesem Haus kannst du benutzen. Das hier ist dein Zuhause, weißt du das nicht?”
Sie lächelte, anstatt sich bei Sam zu bedanken, und ging zur Tür.
“Ich komme auch gleich hoch”, sagte Sam. “Ich muss noch einige Telefonate nach Übersee machen. Soll ich noch einmal nach dir schauen, bevor ich ins Bett gehe?”
“Das wäre schön”, antwortete Jade, winkte ihm kurz zu und ging mit ihrem Buch hinaus.
Die Telefongespräche dauerten länger als Sam erwartet hatte, und es war weit nach Mitternacht, als er die Treppen hinaufstieg. Zwar war er müde, aber er war sehr fröhlich. Es würde noch viel Zeit brauchen, aber er hatte das Gefühl, dass heute ein Wendepunkt in ihrem Leben eingetreten war.
Er spürte, dass zwischen Jade und Luke etwas geschehen war. Er hoffte, dass es etwas wäre, auf das sie ein gemeinsames Leben aufbauen könnten. Aber was noch schöner war, lag in der Tatsache, dass auch etwas zwischen Sam und seiner Tochter passiert war. Heute hatte sie ihn Daddy genannt, und für ihn war es so wichtig, als habe ein kleines Kind zum ersten Mal dieses Wort gesagt.
Als er sich ihrem Kinderzimmer näherte, verlangsamte er seine Schritte. Die Tür war geschlossen, aber er hatte ihr versprochen, nach ihr zu sehen. Er wollte sein Wort nicht brechen.
Die Tür öffnete sich leise. Das Buch, das sie mitgenommen hatte, lag auf dem Nachtschränkchen unter einer Lampe. Jade lag zur Tür gewandt. Sie hatte die Knie fast bis an ihr Kinn gezogen, und ihr Kopf berührte fast ihren Brustkorb. Sogar im Schlaf hatte sie eine Position eingenommen, die ihr Schutz bot – es war eine Haltung absoluter Abwehr.
Sam übermannten seine Gefühle, als er in ihr Zimmer ging. Die Decke war ihr von den Schultern gerutscht. Draußen war es recht heiß und stickig, aber die Lüftungsanlage hatte den Raum auf eine angenehme Temperatur heruntergekühlt. Vorsichtig, ohne sie zu wecken, hob Sam die Decke an und legte sie über Jades Schultern. Dabei entdeckte er, dass sie etwas in der Hand hielt. Als er sich herunterbeugte, um zu sehen, was es war, erkannte er die kleine rosafarbene Decke, die sie verloren hatte, als Margaret sie mit sich fortgenommen hatte.
Oh Kleines … meine süße Kleine … Du wirst noch eine Weile brauchen, bist du erkennst, dass du nicht mehr in Gefahr bist, wenn du erwachsen bist.
Leise drehte er sich um und ging auf Zehenspitzen hinaus in den Flur.
Jade hatte nicht bemerkt, dass Sam in ihr Zimmer gekommen war, aber gegen frühen Morgen fing sie zu träumen an. Und wie immer begann der Traum mit derselben Szene: Solomon kam in ihr Zimmer und weckte sie auf, dann zog er sie hinter sich her zum lilafarbenen Zimmer. Ihr Herz schlug wild, ihre Hände fingen zu schwitzen an, und wie immer musste sie ganz dringend auf die Toilette, weil sie eine unkontrollierbare Angst hatte.
Im Schlaf kämpfte Jade und bettelte. Sie sträubte sich gegen das Bett in diesem Raum, doch es kam immer näher und näher. Dann hielt sie plötzlich Raphaels Hand und Solomon war verschwunden.
Ihr Herz schlug ruhiger und die Panik ebbte ab, dennoch hatte sie das deutliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte noch nicht die Szenen geträumt, nach denen Raphael kam, um sie zu retten. Das kam erst später, nach all den Schmerzen. Aber dieses Mal kam er früher, er lächelte sie an, und sie spürte, wie seine Lippen ihre Wange berührten, als er sich zu ihr hinunterbeugte, um sie zu küssen. Und deshalb, sagte sie sich, war sie in Sicherheit.
Im Traum zog Raphael sie ungeduldig an der Hand, so als ob sie trödelte. Sie lächelte, als sie beide zusammen losgingen. Dann sah sie, wie sie sich umdrehte. Die Tür zu dem lilafarbenen Zimmer verschwand plötzlich, und dann war sie weg. Als sie sich wieder nach vorn umdrehte, um zu schauen, wohin sie gingen, sah sie einen langen Gang, an dessen Ende ein Licht strahlte.
“
Rafie … wohin führst du mich?”
Er lächelte. “Nach Hause.”
“
Aber wir sind doch schon zu Hause?”
“
Nein. Aber wir sind gleich da.”
Jade zog ihre Knie noch ein wenig näher an die Brust und ließ sich tiefer in diesen Traum fallen.
Mit einem Mal war der Flur zu Ende, und sie gingen auf das Licht zu. Bevor sie Raphael fragen konnte, wo sie sich befanden, stand Luke vor ihnen.
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