Gefangene Seele
gehören würde.
Sie waren schon beim Nachtisch angelangt, als Jade ihre Gabel ablegte.
“Hast du etwas von Luke gehört?”
“Nein, das letzte Mal haben wir gesprochen, als du auch mit ihm telefoniert hast.”
“Meinst du, dass alles in Ordnung bei ihm ist?”
“Ja. Luke kann auf sich selbst aufpassen. Du magst ihn, stimmt’s?”
Jade spürte, wie ihr die Hitze den Nacken hinaufstieg, aber sie wollte Sam nicht anlügen.
“Ja.”
“Er würde dir nie etwas zuleide tun.”
Sie seufzte. “Ja, ich weiß … oder wenigstens weiß ich das jetzt. Aber ich bin so … verunsichert.”
“Ja, das ist ganz natürlich.”
Sie schwieg für einen Augenblick, dann sah sie zu Sam auf. Ihr war nicht bewusst, wie ängstlich und hilflos sie dabei ausschaute.
“Glaubst du, es wäre in Ordnung, wenn ich in meinem alten Zimmer schlafen würde? Nur heute Nacht? Wenn du im Zimmer nebenan schläfst, dann hätte ich nicht das Gefühl …”
“Natürlich”, unterbrach Sam sie.
“Ich fühle mich, als wäre ich ein kleines Baby, aber ich habe nie mehr alleine geschlafen, seitdem …”
“Du brauchst dich nicht dafür zu rechtfertigen. Niemals”, sagte Sam. “Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Nie.”
Sie nickte. “Danke, Daddy.” In ihrer Stimme schwang Erleichterung mit. Sie küsste Sam auf die Wange. “Vielleicht werde ich mich eines Tages so alt fühlen, wie ich wirklich bin. Stell dir vor, ich habe tatsächlich Angst, alleine zu schlafen. Ist das nicht verrückt?”
Sam wünschte sich, er könnte ihr eine Antwort geben oder zumindest lächeln, aber der Knoten, den er in seiner Kehle spürte, ließ das nicht zu. Er befürchtete, in Tränen auszubrechen. Jade konnte nicht wissen, wie sehr es ihm in der Seele wehtat, was sie hatte ausstehen müssen. Sam betete dafür, dass Jade es nie erfahren würde. Er konnte einfach nur den Kopf schütteln, anstatt ihr zu antworten. Nein, Jade war nicht verrückt, ganz im Gegenteil.
Nach dem Essen verbrachten sie den restlichen Abend mit Fernsehen in der Bibliothek, aber da Jade ohne Fernseher aufgewachsen war, hatte sie wenig Interesse. Stattdessen ging sie hinüber zum Bücherregal, dass unter der Last der zahllosen Bände fast zusammenbrach. Obwohl sie nicht auf eine Schule gegangen war, las sie gern und schnell. Und als sie ein Buch sah, das eine ihrer Lieblingsgeschichten beinhaltete, nahm sie es heraus und ging damit zu einem gemütlichen Sessel, der an einem Tischchen mit einer Tiffany-Lampe stand.
Erst als die Werbung anfing, fiel Sam auf, dass Jade völlig in ihre Lektüre vertieft war.
“Was liest du da?”, fragte er, während er aufstand, um sich ein kühles Getränk einzuschenken.
“
Die drei Fragezeichen.
Es ist ein Kinderbuch, aber ich mag die Geschichten sehr.”
Sam runzelte die Stirn. Er versuchte, sich daran zu erinnern, worum es in dem Buch ging, aber es fiel ihm nicht ein.
“Worum geht es da?”
“Es sind diese drei Freunde, die verschiedene Rätsel lösen. Und in diesem Buch geht es darum, dass sie Kinder kennenlernen, die kein Zuhause haben und in einem alten Eisenbahnwaggon leben. Es ist traurig, zugleich ist es aber auch wunderschön. Alles zusammen.”
Sam berührte ihr Haar, als er vorbeiging. “Ich muss mir das durchlesen, wenn du es fertig gelesen hast.”
Sie nickte.
“Möchtest du auch etwas Kaltes zu trinken?”
“Nein, danke”, murmelte sie.
Er grinste. Sie war schon wieder tief in die Geschichte versunken. Es schien ihm, als lese sie schnell, denn Jade blätterte die Seiten zügig um. Dafür, dass sie nie eine Schule besucht hatte, war es an sich schon ein Wunder, dass sie überhaupt lesen konnte, ganz zu schweigen davon, dass sie es gern und schnell tat.
Die Standuhr in der Ecke schlug elf Uhr, als plötzlich das Telefon klingelte. Jade zuckte zusammen, als Sam den Hörer abnahm und sich meldete.
“Luke! Wir haben schon auf deinen Anruf gewartet. Ist alles gut gegangen?”
Luke seufzte. “Ich wollte so spät nicht mehr stören. Aber dann dachte ich mir, dass ihr die gute Nachricht doch gerne hören würdet: Wir haben Jacks – er ist in Verwahrung. Ist Jade noch wach?”
Sam lächelte und gab Jade den Hörer.
“Luke?”
Allein ihre Stimme zu hören beruhigte ihn schon. Den ganzen Tag war er so unheimlich wütend. “Ja, ich bin’s, Baby. Ich wollte dir nur sagen, dass es vorbei ist. Du bist in Sicherheit.” Dann fügte er hinzu: “Ich liebe dich.”
Sie seufzte. “Ich liebe dich auch.”
Dann
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