Gefangene Seele
“Nein, sie hatte einen Albtraum”, sagte er leise. “Es tut mir leid. Wir wollten niemanden wecken.”
“Vielleicht hat sie Fieber”, schlug Charlie vor und streckte eine Hand aus. Jade duckte sich und ließ sich wieder auf ihre Pritsche rollen.
“Sie mag es nicht, wenn man sie anfasst, es tut mir leid”, erklärte Raphael.
Charlie seufzte. “Das verstehe ich”, sagte er leise. “Jedenfalls … wenn Sie oder Ihre Freundin etwas brauchen, lassen Sie es mich einfach wissen. Oben im Büro ist ein Arzt auf Bereitschaft, der bis mindestens morgen früh hier sein wird.”
“Ihr geht es gut”, sagte Raphael. “Wir werden niemanden mehr stören.”
Charlie sah sich um und grinste. “Machen Sie Witze? Hier drin ist es so laut, als wären Kettensägen am Werk. Versuchen Sie einfach, sich auszuruhen, einverstanden?”
“Ja, danke”, sagte Raphael.
Jade sah ihn an und zuckte mit den Schultern. “Es tut mir leid. Ich wollte mich nicht so anstellen, es war nur …”
“Pst”, flüsterte Raphael und strich dann eine Strähne von ihrer Stirn, die sich dorthin verirrt hatte. “Es ist gleichgültig. Es ist alles egal, solange wir sicher sind, nicht in den Fluten des Mississippi unterzugehen.”
“Es tut mir leid, dass wir überhaupt hierher gefahren sind. Es ist alles meine Schuld.”
“Nein, es ist niemandes Schuld. Ich wollte doch auch herkommen, erinnerst du dich nicht?”
Jade zog die Stirn in Falten. “Nein, ich erinnere mich nicht daran. Du hast einfach das gemacht, was ich vorgeschlagen habe.” Sie strich sich mit den Händen durch die Haare und rückte näher an Raphael heran, damit sie die Menschen in ihrer Nähe nicht störte.
“Entschuldige bitte, Rafie. Alles ist meine Schuld, es tut mir leid. Ich mache dir nichts als Ärger.” Ihre Stimme war kurz davor zu kippen, aber sie zwang sich, sich zu konzentrieren. Das, was sie ihm jetzt sagen wollte, hätte sie schon vor Jahren sagen wollen. “Ich bin eine erwachsene Frau. Ich werde diese … all diese Scheiße überwinden … mit Gottes Hilfe.”
Raphael beugte sich vor, sodass sich ihre Stirnen berührten.
“Das war keine Scheiße, das war ein Verbrechen. Mach dich nicht immer kleiner, als du bist. Mach das nicht immer, verdammt noch mal, ja?”
Sie seufzte. “Okay.”
Er lächelte. “Braves Mädchen. Wirst du jetzt wieder einschlafen können?”
“Ich will nicht schlafen”, antwortete Jade.
Raphael sah sie fragend an. “Du hast davon geträumt, stimmt’s?”
Sie zögerte, dann nickte sie.
“Wer?”
“Der Typ, der sich selbst immer ‘der Onkel’ nannte.”
“Ist sein Gesicht in der Kiste?”
“Nein”, sagte Jade.
“Morgen früh malst du auch sein Gesicht und tust das Blatt dann zu den anderen in die Kiste. Du weißt, wenn du es gezeichnet hast, dann musst du nicht mehr daran denken, wie er ausgesehen hat.”
“Ja, das mache ich morgen. Ich werde sein Gesicht morgen zeichnen”, sagte Jade. Dann streckte sie sich wieder auf ihrer Pritsche aus und versuchte sich zu entspannen.
Die Gesichter ihrer Vergewaltiger zu zeichnen, war für sie eine Möglichkeit, um die bösen Geister aus ihrer Erinnerung zu vertreiben. Manchmal funktionierte es, aber nicht immer.
Sie beobachtete Raphael, wie er sich auf seine Pritsche legte und so nah es ging an sie heranrückte. Sie legte ihren Arm um seine Taille und schmiegte sich gegen seinen Rücken. Ihre Furcht, dass die Albträume wiederkehren würden, bewahrheitete sich nicht, und sie schlief fest bis zum nächsten Morgen.
* * *
Am nächsten Morgen bog Luke um fünf Minuten nach neun Uhr auf das Grundstück, das am Ende eines Wohnblocks lag. Man hatte ihm erzählt, dass es sich dabei um ein altes Gemeindehaus handelte, das für die Flutopfer als Übergangslager diente. Das einzig Gute an diesem Tag war, dass frühmorgens sein Gepäck geliefert worden war, und er sich rasieren und frische Sachen anziehen konnte.
Aber das hier war nun schon das dritte Lager, dass er seit dem frühen Morgen durchkämmt hatte, und Luke begann, Panik zu bekommen. Dem Mann von der Katastrophenhilfe zufolge war dieses hier das letzte Lager, in das die Leute, die evakuiert worden waren, gebracht wurden. Außerdem wurden die meisten schon wieder in ihre Häuser und Wohnungen entlassen. Luke stellte sich vor, was sie dort erwarten würde. Sie taten ihm leid. Jedenfalls war er hier, um ein Unrecht, das vor langer Zeit geschehen war, wiedergutzumachen, und je schneller sich die Situation mit dem
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